Den Menschen nicht vergessen

Ende Februar sorgte ein Tweet vom World Economic Forum – das ist die Gruppe von Entscheidern um Klaus Schwab, die sich regelmäßig in Davos trifft – für große Entrüstung: Der Lockdown verbessere auf leise Art die Städte. Ein – inzwischen gelöschtes – Video zeigte menschenleere Straßen und Fabriken, und pries die sich daraus ergebende Stille. Eine Welt ohne Menschen – ist das die Blaupause für den „Great Reset“?

Es passiert gerade häufig, daß Entscheider mit Blick auf Zahlen und Ziele den Menschen, das Leben und das große Ganze aus den Augen verlieren. Die Klimapolitik bürdet mit Blick auf ein paar Kennzahlen – Temperatur und CO2-Wert – den Menschen immer höhere Energiepreise auf und gefährdet dabei Natur und Wirtschaft. Auch der Kampf gegen das Virus ist zahlenfixiert und richtet gewaltigen, noch nicht überschaubaren Schaden für Mensch, Gesellschaft und Wirtschaft an. Das sind nur die prominentesten Beispiele, viele weitere ließe sich aufzählen. Warum ist das so?

Sache oder Mensch?

Im Coaching verwende ich gern einen Persönlichkeitstest, der eine wenig beachtete Persönlichkeitsdimension mißt: Es ist das Kontinuum zwischen Sachorientierung und Menschenorientierung. Praktisch alle Menschen tragen beides in sich, können also sowohl mit Dingen, als auch mit Menschen umgehen. Jedoch mit unterschiedlicher Betonung, je nachdem, welche Seite stärker ausgeprägt ist. Der eine bevorzugt die Sache, der andere die Menschen. Beides ist gut, und die Welt braucht beides. Problematisch wird es jedoch, wenn man vor lauter Konzentration auf die eine Seite die jeweils andere Seite aus dem Blick verliert. Das passiert oft unter Streß („Tunnelblick“), oder wenn die Aufgabe so groß oder komplex ist, daß man sie kaum mehr überblicken kann.

Eine wenig beachtete Persönlichkeitsdimension: das Kontinuum zwischen Sachorientierung und Menschenorientierung

Vor allem Politiker, Planer und Entscheider konzentrieren sich eher auf die Sachebene und verlieren allzu leicht den Menschen aus dem Blick. Sie entscheiden dann über die Menschen hinweg und machen die Menschen zu Objekten. Dafür lassen sich unzählige Beispiele finden. Den Kampf der Politik gegen das Virus oder gegen den Klimawandel auf Kosten der Menschen habe ich schon genannt. Hartz IV oder die Taylorisierung der Industrie vor 100 Jahren sind weitere, besonders folgenreiche Beispiele. Die neue, menschenleere Weltordnung des World Economic Forum steht für viele frühere Versuche, durch Zwang oder Blutvergießen eine bessere Welt auf Kosten des Menschen zu schaffen. Von der Politik über die Köpfe der Menschen hinweg verordnete Gesetze sind ein Dauerproblem, das schon die Bibel kommentiert: „Der Buchstabe des Gesetzes tötet.“ Unternehmen, die detailliert durchorganisiert sind, aber Kunden oder Mitarbeiter wie Schachfiguren behandeln, und Chefs, die sich mehr um die Zahlen als um die Mitarbeiter kümmern, sind geradezu Legion.

Natürlich gilt das auch umgekehrt: Wenn sich der Coach so sehr auf das Menschliche konzentriert, daß er seine Buchhaltung oder die Steuer verschlampt, dann hat er ein Problem. Wo Menschen jede Ordnung und Struktur ablehnen, entsteht Unordnung, Beliebigkeit oder Anarchie, die am Ende den Menschen selbst schaden. Doch wo man um der Sache willen den Menschen vergißt, ist der Schaden meist größer, vor allem da sich das seit vielen Jahren häuft. Den Menschen zu ignorieren oder ihn als Objekt zu behandeln – das heißt: Ihn nicht wertzuschätzen. Wertschätzung hat etwas mit dem Wert des Menschen zu tun. Worauf aber gründet der sich?

Vom Wert des Menschen…

Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Rein materiell, also von seinen chemischen Bestandteilen her, ist der Mensch ein paar Euro wert. Von seinem Potential, Arbeit zu verrichten und Mehrwert zu schaffen, schwankt sein Wert je nach Alter und Qualifikation. Danach wäre Wert erwerbbar, und er kann verlorengehen. Das kann es nicht sein. Es bringt uns nicht weiter. Wir müssen tiefer gehen und fragen: Was ist der Mensch? Aus biologischer Sicht ist er ein Tier. Das sagen nicht nur Wissenschaftler, sondern wir alle, etwa wenn wir uns als „Gewohnheitstiere“ oder „Arbeitstiere“ bezeichnen, oder den Chef als „Alphatier“. (Zwischenfrage eines Psychologen: Was macht es mit uns, wenn wir so über uns sprechen?)

Was macht es mit uns, wenn wir so über uns sprechen?

Und natürlich sind wir „Primaten“, also „Herrentiere“, wegen unseres hoch entwickelten Gehirns. Da war die Entscheidung des Kopenhagener Zoos nur folgerichtig, im Primatengehege auch zwei Exemplare der Gattung Homo sapiens auszustellen. Sie machten, was Homo sapiens so macht – am Motorrad basteln, Bücher lesen oder fernsehen. Aber sie weigerten sich, ihre Notdurft gleichermaßen unbekümmert zu verrichten, wie die Affen um sie herum. Aha! Es gibt einen Unterschied zwischen Mensch und Tier!

Das Experiment in Kopenhagen endete erzwungenermaßen, weil es angeblich die Menschenwürde verletzte. Das führt uns weiter: Was gibt dem Menschen Würde? Eigentlich müßten wir nun erst fragen: Was ist eigentlich Würde? Doch darauf verzichte ich hier lieber, damit es nicht noch mehr Text wird. Ich kenne jedenfalls weder psychologisch, noch philosophisch eine wirklich belastbare Grundlage, von der sich die Würde des Menschen, und nur des Menschen eindeutig, folgerichtig und unverlierbar herleiten ließe.

… zur Würde des Menschen

Das Grundgesetz sagt „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Daß sie doch antastbar ist, und daß das ständig geschieht – auch in der Arbeitswelt –, wissen wir alle nur zu gut. Dennoch: Das Grundgesetz postuliert die Menschenwürde auf der Grundlage eines Gottesbezuges. Der Mensch als Geschöpf und Ebenbild Gottes – das ist meines Wissens die einzige logisch saubere Herleitung der Menschenwürde. Doch in einer Gesellschaft, die sich von Gott entfremdet hat, kann das nicht gelten. Damit bleibt die Frage nach Wert und Würde der Beliebigkeit überlassen.

Wert und Würde: Stabilisierungsfaktoren im Zusammenleben der Gesellschaft

Der Coach und Berater Stefan Vatter bezeichnet Wert und Würde als Stabilisierungsfaktoren im Zusammenleben der Gesellschaft. Er vergleicht das mit den Balken, die ein Architekt einzieht, um die Statik des Gebäudes zu stabilisieren. Das sollte uns aufmerken lassen: Die Statik unserer Gesellschaft ist gerade sehr am Wanken. Das liegt nicht nur an den Erschütterungen durch die Klima- und die Coronakrise, oder an der stetig zunehmenden Komplexität unserer Welt, die uns orientierungslos macht. Es mangelt eben auch an Wert und Würde, und zwar in besorgniserregendem Ausmaß. Gerade jetzt brauchen wir sie am dringendsten, denn der Mangel daran raubt uns unser Selbstwertgefühl und bremst damit unsere Problemlösefähigkeiten aus.

Wenn man eine Jacke zuknöpft, kommt es besonders auf den ersten Knopf an. Ist er schief geknöpft, dann wird das mit den restlichen Knöpfen auch nichts: Am Ende ist alles schief. Dem Menschen wieder Wert und Würde zu geben, ihn nicht mehr der Sache zu opfern, ihn spüren zu lassen, daß er ein Mensch ist – das ist der erste Knopf. Nur wenn wir das hinkriegen, dann kriegen wir es auch mit den anderen Problemen hin: der Pandemie, dem Klimawandel, dem Umwelt- und Tierschutz, dem nächsten langen Wirtschaftsaufschwung, und einer sich ganz ohne künstlichen „Reset“ natürlich entwickelnden besseren Welt.

Der Fremdkörper im Unternehmen

Im Unternehmenskontext trägt das Feelgood Management aktiv zu dieser Entwicklung bei. Warum man einen Feelgood Manager oft noch als überflüssig oder zumindest als Fremdkörper im Unternehmen wahrnimmt, wird mit dem Blick auf das oben genannte Kontinuum zwischen Sachorientierung und Menschenorientierung verständlich: Im Unternehmen geht es vor allem um Produkte, Prozesse, Zahlen, Finanzen, Organisation – um die Sachebene also.

Das Wirkungsfeld des Feelgood Managers ist dagegen die Beziehungsebene. Allerdings habe ich noch keine Stellenausschreibung gesehen, die den Feelgood Manager konsequent auf dieser Ebene verortet: Ihm sind stets auch „Sach-Aufgaben“ aufgetragen. Verständlich: Von der Sachebene her läßt sich nicht ableiten, wie sehr allein das Vorleben und Initiieren von Wertschätzung jene stabilisierende Werte-Ebene ins Unternehmen bringt, die in krisenschwangeren Zeiten die „Statik“ festigt. Es ist wirklich fremd und gewöhnungsbedürftig: Der Wandel in der Arbeitswelt kristallisiert sich an einem Punkt, an dem es nicht um ein Machen, sondern um ein Sein geht.