Corona ermüdet und erschöpft. Das liegt nicht nur an Masken- und Abstandsgebot, an ständig neuen Verordnungen und Planungsunsicherheit. Es liegt vor allem am Fehlen zwischenmenschlicher Kontakte. Viele Menschen erleben, wie zentrale Bedürfnisse nach Nähe und Begegnung verhungern. Es gibt zwar mit Skype, Zoom und Co. digitale Ersatzlösungen. Doch inzwischen stellt sich heraus, daß sie kein wirklicher Ersatz für die Begegnung von Mensch zu Mensch sind.
Die Freude über das Gute am Schlechten war groß: Corona hat endlich auch in Deutschland die Digitalisierung ein gutes Stück vorangetrieben. Nun geht in großem Maßstab, was man bisher nicht für möglich hielt: Arbeit von Zuhause aus. Nicht nur Besprechungen, auch Konferenzen und Kongresse finden nun digital im Internet statt. Das spart Reise- und Übernachtungskosten und oft auch teure Kongreßgebühren. Das Tempo des Wandels war faszinierend. Eine neue, obendrein auch klimaschonende Normalität scheint sich abzuzeichnen: Keine Dienstreisen mehr, gesparte Zeit, gesparter Aufwand, gesparte Kosten, das nächste Meeting ist nur einen Mausklick weit entfernt.
Zoom Fatigue – eine Erschöpfung durch intensive Nutzung von Zoom
Doch jetzt, nach einem Jahr Corona, gibt es Ernüchterung. Sie hat einen Namen: Zoom Fatigue – eine Erschöpfung durch intensive Nutzung von Zoom und anderen digitalen Begegnungsmöglichkeiten. Alles spielt sich eng gedrängt auf dem Monitor ab. Schlechter Ton zwingt zu anhaltend höherer Konzentration. Die stets zeitverzögerte Übertragung behindert den Kommunikationsfluß. Technische Probleme steigern den Streßpegel. Und das andauernde Gefühl des Beobachtetseins verspannt viele Benutzer.
Digitale Ernüchterung
Während im Sitzungsraum der Blick von Teilnehmer zu Teilnehmer oder auch mal aus dem Fenster schweifen kann, fokussiert das Auge nun unentwegt den Bildschirm. Jede Bewegung, jedes unterdrückte Gähnen, jedes Hintergrunddetail auf den vielen Kacheln drängt sich dem starren Blick auf. Wenn man dann gerade einen wichtigen Gedanken nicht mitbekommen hat, kann man nicht flüsternd den Nachbarn fragen. Alles ist öffentlich, Informelles oder Emotionales am Rand hat keinen Platz. Direkter Blickkontakt ist wegen der Anordnung der Kamera über dem Bildschirm nicht möglich.
Erst wenn man etwas Menschliches technisch nachbilden will, erkennt man, wie vielschichtig es ist
Es ist mir schon öfter aufgefallen, etwa bei künstlicher Intelligenz oder selbstfahrenden Autos: Erst wenn man etwas Menschliches technisch nachbilden will, erkennt man, wie vielschichtig das ist, was das Menschliche ausmacht. Menschliche Begegnungen leben von Präsenz, Blickkontakt, Körperhaltung, Berührung, Emotionen und vielem mehr. Gruppenereignisse umfassen eine Vielzahl informeller Begegnungen und Smalltalk vor und nach dem eigentlichen Ereignis. Und – nicht zu vergessen – auch die körperlich bewegten Wege zum Treffpunkt und zurück sind Teil des Gesamterlebnisses.
All das ist technisch kaum nachbildbar. Zwar könnten bessere Software und zuverlässigere Technik manche systembedingte Einschränkungen entschärfen. Doch je mehr man all die kleinen menschlichen Facetten von Begegnungen technisch nachzubilden sucht, desto komplizierter wird alles, desto mehr lenkt es vom Eigentlichen ab. Das ist kein Ersatz für das Menschliche, das einfach geschieht. Digitale Nachbildungen menschlicher Begegnungen bleiben energiezehrende Mangelereignisse.
Leben ist wesensmäßig Information
Dabei sind echte, gelingende Begegnungen schiere Energiequellen. Ich schrieb kürzlich schon davon, und zitierte dort Martin Buber: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Mich begleitet und prägt das Wort, seit ich es beim Literaturstudium für meine Diplomarbeit entdeckt habe. Doch nie war seine Wahrheit so sehr zu spüren, wie jetzt, da uns das Coronavirus Begegnungen erschwert: Was unser Leben schützen soll, trennt uns vom Leben. Nichts Digitales kann das ersetzen. (Andererseits wissen wir auch, wie energiezehrend mißlingende Begegnungen sein können. Buber erfand dafür das Wort Vergegnung.)
Digitale Erschöpfung
Aber – sind es nur die Unzulänglichkeiten der digitalen Kollaborationstools, die für die digitale Ernüchterung sorgen? Steckt nicht noch mehr dahinter? Wenn ich sehe, wie einerseits immer mehr Menschen jede freie Minute mit dem Smartphone verbringen und andererseits immer mehr Menschen über die nicht mehr beherrschbare Informationsflut klagen, dann wird deutlich: Das Problem liegt tiefer. Es ist die unentwegt wachsende Menge an Informationen, die ununterbrochen auf uns einströmt und eine suchtartige Angst erzeugt, etwas zu verpassen.
„Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist.“
Paracelsus
Leben ist wesensmäßig Information: Von den Erbinformationen in den Genen über die Informationsflüsse im Nervensystem, über die „programmierten“ unwillkürlichen Reflexe, über die Informationsaufnahme durch die Sinnesorgane bis zu den Denkprozessen im Gehirn haben wir es auf allen Ebenen des Lebens mit Informationen zu tun. All das kommt aus dem Gleichgewicht durch ein Zuviel an Informationen, das uns die Digitalisierung beschert. Wir verseuchen unsere Umwelt heute mit Informationen, so wie wir sie früher mit giftigen Substanzen verseucht haben. Galt früher die Fabrikhalle als der gefährlichere Arbeitsort, so ist es heute das Büro. Die Zahl „klassischer“ Arbeitsunfälle stagniert, doch Burnout, Angststörungen und Depressionen nehmen zu. Gibt es also nicht nur die Zoom-Erschöpfung, sondern so etwas wie eine digitale Erschöpfung?
Und siehe da: Die Suchmaschine meines Mißtrauens bestätigt das nicht nur, sie weist mich sogar auf ein Buch dieses Titels, geschrieben vom technologieaffinen Unternehmer Markus Albers. Er ist ein Apologet des Neuen Arbeitens (New Work) und ein begeisterter Nutzer all der digitalen Kollaborationstools, die es heute so gibt. Beides hängt zusammen: Wenn Arbeit digitalisiert ist, dann läßt sie sich jederzeit und überall ausführen – ob im Büro, zu Hause, im Café, im Zug oder am Strand. Doch es ist ein Freiheitsversprechen, das unfrei macht: Wenn man jederzeit online ist, dann ist man jederzeit erreichbar – auch für den Chef und die Kollegen. Arbeit und Freizeit vermischen sich, und beides kommt dabei zu kurz. Ja, auch die Arbeit, denn wer unausgeruht ist, ist nicht leistungsfähig.
Es ist ein Freiheitsversprechen, das unfrei macht
Aus dieser Ernüchterung heraus schrieb Albers sein Buch. Er berichtet sehr offen und überaus unterhaltsam von seinem Kampf mit der Informationsflut, überlegt, wie es dazu kommen konnte, und wie sich das verändern ließe. Dabei wird er weder zum Gegner der Digitalisierung, noch der Neuen Arbeit. Er betrachtet das Problem stets von allen Seiten, fragt andere Betroffene nach ihren Erfahrungen und Sichtweisen, stellt unterschiedlichste, einander teils wiedersprechende Lösungsvorschläge vor und diskutiert deren Vor- und Nachteile. Allein das macht sein Buch äußerst lesenswert. Erstaunlicherweise (oder eher: logischerweise?) kristallisiert sich dabei die Unternehmenskultur als der zentrale Ansatzpunkt heraus: Während digitale Tools die arbeitenden Menschen befreien sollen, macht die bestehende Unkultur von Kontrolle und Effizienz aus eben diesen Tools digitale Fesseln.
Stellschraube Unternehmenskultur
Neuer Wein gehört nicht in alte Schläuche. Diese etwas rätselhaft klingende Volksweisheit stammt aus der Bibel. Damals gab es noch keine Weinflaschen. Deshalb bewahrte man Wein in Tierdärmen auf – ebensolchen, die heute die Wurst umhüllen. Da neuer Wein beim Abfüllen noch etwas gärte, blies er die Därme prall auf. Das hielten sie aus. Versuchte man jedoch die ausgeleierten Därme vom Vorjahr für den nächsten Jahrgang zu recyceln, dann hielten sie dem neuerlichen Druck nicht mehr stand. Dann war beides dahin – Schlauch geplatzt, Wein verschüttet. Wenn die Digitalisierung auf eine überholte Unternehmenskultur trifft, dann geht es ebenso schief. Menschen und Unternehmen leiden gleichermaßen.
Wie geht es also richtig mit der Kultur und der Digitalisierung? Buchautor Albers hat kein Patentrezept. Aber er gibt immerhin Tips zu individuellen Strategien im Umgang mit der Informationsflut, und er gibt auch Tips für Arbeitgeber, die Rahmenbedingungen zu verändern. Beides macht das Buch zu einem wertvollen Juwel für alle digital Geplagten, insbesondere auch für den Feelgood Manager. Daß es keine fertigen Lösungen bietet, bewahrt den Leser zudem vor einer Wissensillusion. Wir sind nämlich trotz vieler Ideen und Erfahrungen immer noch auf der Suche. Der Feelgood Manager kann nicht wie ein Unternehmensberater sagen: Ich weiß, wie es geht. Es ist vielmehr ein Suchen und Probieren, das in jedem Unternehmen anders verlaufen wird, weil jedes Unternehmen anders ist.
Wir sind trotz vieler Ideen und Erfahrungen immer noch auf der Suche
Ein Vergleich der heutigen Entwicklung mit früheren kann das illustrieren: Wir befinden uns in einer ähnlich spannenden Zeit wie vor dem Eisenbahnbau. Der Wirtschaftsboom, den die Dampfmaschine Ende des 18. Jahrhunderts ausgelöst hatte, war kollabiert wegen fehlender Transportkapazität. Pferd und Wagen schafften es einfach nicht mehr, die erforderlichen Mengen an Rohstoffen und Produkten zu transportieren. Etwas Neues, Leistungsfähigeres mußte her, am besten etwas Dampfgetriebenes. Doch der Dampfwagen bewährte sich nicht. Auch vom Bergbau inspirierte Versuche, schienengebundene Wagen mittels Seilzügen durch neben der Strecke stationierte Dampfmaschinen zu bewegen, scheiterten. Vielversprechend war endlich die Idee, die Dampfmaschine selbst auf Schienen zu setzen. Dieser Ansatz erforderte dann noch eine Menge Basteln und Probieren, bis eine brauchbare Lösung gefunden war. Sie führte zum großangelegten Eisenbahnbau der 1830er und 1840er Jahre, der die Wirtschaft wieder kräftig aufblühen ließ.
Heute versuchen wir auf ähnlich suchende und vorantastende Weise, Informations- und Wissensarbeit produktiver und menschengerechter zu machen: Probleme erkennen, Zusammenhänge entdecken, Lösungen ausprobieren, nachbessern, wieder nachbessern. Die „Zutaten“ dafür sind bereits da – wie auch damals beim Eisenbahnbau. Es gibt schon gute Ansätze im Feelgood Management. Aber für die digitale Erschöpfung haben wir noch keine Lösung. Wir sind immer noch am Anfang. Da ist noch so viel mehr möglich. Auch die Eisenbahnpioniere der ersten Stunde ahnten damals nicht, welch gewaltige Entwicklung sie da angeschoben haben. Es bleibt spannend. Packen wir es an – damit Mensch und Wirtschaft neu aufblühen.
Literatur
Albers, Markus: Digitale Erschöpfung. Wie wir die Kontrolle über unser Leben wiedergewinnen können. Carl Hanser Verlag, 2017