Wie Corona die Wertvorstellungen verändert

Groß sind die Hoffnungen auf eine Rückkehr zur alten Normalität – und nun stockt der Impfstoff-Nachschub! Doch eine alte Normalität wird es nicht mehr geben. Und das, was wir jetzt erleben, ist noch nicht die neue Normalität. Wie wird sie sein? Eine Studie von GIM foresight fragt, welche „kollektiven Spuren in den Einstellungen und Werten“ die Corona-Krise in Menschen und Organisationen hinterläßt.

Der Name der Studie lautet: „Der Schwarze Schwan Covid-19“. Schwarze Schwäne – ein Begriff, den Buchautor Nassim Taleb prägte – sind unwahrscheinliche Ereignisse mit beträchtlichen Auswirkungen. Einige wenige sehen das Ereignis zwar kommen, doch man hört nicht auf sie. Deshalb ist das Eintreffen des Ereignisses für die Gesellschaft überraschend. Man ist unvorbereitet, und es mangelt an Ressourcen und Kompetenzen, damit umzugehen.

Die Wissenschaft spricht nun mal nicht mit einer Stimme

Die Corona-Krise, so heißt es, irritiere die Wissensgesellschaft, weil deren Ideale Berechenbarkeit und Kontrolle seien. Corona handele aber von Ungewißheit und Nicht-Wissen. Es stimmt – die Pandemie zeigt wie unter einem Brennglas die Probleme des Umgangs mit Komplexität: Die Regierung muß handeln, doch es fehlt an Wissen. Die Forschung ist in vollem Gang, doch die Erkenntnisse, die sie nach und nach liefert, widersprechen einander. Die Wissenschaft spricht nun mal nicht mit einer Stimme. Man kann auf einen Virologen hören – doch Infektiologen, Epidemiologen, Soziologen, Psychologen oder Ökonomen kommen aus ihrem jeweils anderen Blickwinkel zwangsläufig zu anderen Ergebnissen. Blendet man sie aus, weil sie verwirren, dann hat man nicht das ganze Bild – und handelt im Blindflug.

Notwendigkeit zum Umdenken

Seit Jahren werden Projekte und Herausforderungen immer komplexer – und es geht immer öfter schief. Man denke an eine Elbphilharmonie, einen Großflughafen, einen Tiefbahnhof, eine Mobilitätswende oder eine Energiewende. Es ist leicht, mit Spott und Häme zu reagieren. Doch dafür ist die Situation zu ernst und der Schaden zu groß. Wer von uns Spöttern oder Kritikern würde es besser machen? Indem uns das Virus unerbittlich auf die zunehmende Komplexität der Welt stößt, fordert es uns ein umfassendes Umdenken ab. Denn die lang bewährten, unterkomplexen Arbeits-, Organisations- und Management-Methoden kommen im komplexen Umfeld an ihre Grenzen.

„Wir können alles richtig machen und trotzdem falsch liegen.“
Vince Ebert

Ist dieses Umdenken schon sichtbar? Was hat die „Schwarzer Schwan“-Studie herausgefunden? Zunächst fallen Widersprüchlichkeiten auf: So komme durch Corona die Digitalisierung sprunghaft voran, was einerseits begrüßt werde – aber auch Angst auslöse. Die Studie verweist auf das geringe Vertrauen in künstliche Intelligenz und die Sorge vor Kontrollverlust.

Ein Weiteres: Einerseits dürfte sich die Tendenz zur internationalen Zusammenarbeit verstärken, da viele Probleme nicht mehr in nationalen Alleingängen lösbar seien. Andererseits wüchsen die Zweifel an der Globalisierung mit ihren international verflochtenen Lieferketten, die sich in der Krise als nicht resilient erwiesen habe. Folge: Eine zunehmende Hinwendung zum Lokalen und zur Heimat. (Das Zukunftsinstitut hat für diesen Trend das Wort „Glokalisierung“ erfunden.)

„Die Krise führt uns allen vor Augen: Am Ende sind der Mensch und die Umwelt systemrelevant.“
Jochen Brühl

Als ein Drittes nennt die Studie den sich zuspitzende Widerspruch zwischen immer offenerem Egoismus einerseits und dem Bedürfnis nach Zusammenarbeit andererseits. Ein Widerspruch, der sich in größerer Dimension in der immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich zeigt, was zu gesellschaftlicher Unzufriedenheit und zum Wunsch nach Gerechtigkeit führe.

Bedürfnis nach Begegnungen

Weiter stellt die Studie eine Rückbesinnung auf das Wesentliche fest, eine große Sehnsucht nach Entschleunigung, Gesundheit und Frieden, sowie Hoffnungen auf Gemeinschaft, Zusammensein und Freiheit. Am meisten fehle uns jedoch der reale Austausch mit Menschen.

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“
Martin Buber

Der Religionsphilosoph Martin Buber schreibt: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Das kann ich aus meiner Arbeit als Coach bestätigen. In der unmittelbaren Begegnung mit anderen Menschen liegt eine lebendige und lebensverändernde Kraft: „Das Ich wächst am Du, so wie das Du am Ich wächst.“ Die vom Virus erzwungene soziale Distanz läßt uns spüren, wie sehr uns das fehlt, und schafft ein zunehmendes psychosoziales Defizit in unserer Gesellschaft. Auf der anderen Seite betont die Kondratiefftheorie der langen Wellen der Konjunktur, daß gerade psychosoziale Fähigkeiten – in einer widersprüchlichen und komplexen Welt produktiv miteinander kommunizieren und kooperieren können – entscheidende Voraussetzungen für einen neuen, kräftigen Konjunkturaufschwung seien.

Ausgerechnet das, was wir am dringendsten brauchen, um aus der Krise zu kommen, geht uns durch die Krise verloren

Die Situation ist ernst: Ausgerechnet das, was Unternehmen am dringendsten brauchen, um aus der Krise zu kommen, geht unserer Gesellschaft durch die Krise verloren. Wir sind angesichts der steigenden Komplexität nicht mehr diskussionsfähig. Wir sind nicht zum Umgang mit Ambiguität – der Widersprüchlichkeit der Welt – in der Lage. Gegensätzliche Meinungen polarisieren und treiben tiefe Risse in die Gesellschaft. Sachdiskussionen enden in Haßrede und gegenseitigen Herabsetzungen.

Das darf in Unternehmen nicht passieren. Es braucht eine Unternehmenskultur, die das Diskutieren gegensätzlicher Standpunkte und das Ausbalancieren von Zielkonflikten ermöglicht, ohne Kollegen zu diskreditieren, die eine andere Position vertreten. Kommunikation und Kooperation – das sind die zentralen Arbeitsbereiche des Feelgood Managements. Gelingt der Kulturwandel in einer gewissen Anzahl von Unternehmen, dann könnten sie „Kondensationskeime“ für ein neues soziales Miteinander in der Gesellschaft werden. Dann hätten wir eine echte neue Normalität.


Literatur

Ohne Autorenangabe: Die Zukunft nach Corona, in: KCF Magazin 4/2020, Seiten 5 bis 9