Ambiguitätstoleranz, so erklärte man uns angehenden Psychologiestudenten, sei die Fähigkeit, es zu ertragen, daß es auf eine Frage mehrere einander widersprechende Antworten geben könne – und doch alle richtig seien. Diese Fähigkeit zu erwerben, sei eines der wichtigsten Ziele des Studiengangs. Das ist lange her. Doch heute ist sie da, die Ambiguität, zusammen mit der Komplexität, der Unsicherheit und der Veränderlichkeit vereinigt im Akronym „VUCA“.
Widersprüchliche Wissenschaft
Ambiguität heißt Mehrdeutigkeit: Man kann eine Sache auf verschiedene Weise deuten. Aber man weiß nicht, welche Deutung die richtige ist. Es bleibt Ungewißheit oder Unsicherheit. Jedes Handeln kann jetzt falsch sein – ebenso Nichthandeln. Eine solche Situation erleben wir aktuell: Ein neuartiges Coronavirus breitet sich aus. Es ist neu, man weiß anfangs noch nicht viel darüber, außer daß es sehr gefährlich zu sein scheint und unser Gesundheitswesen überfordern könnte.
Die Politik muß reagieren, doch es fehlt an Wissen. Diese Lücke füllen zunächst Daten: Rund um die Uhr verkünden die Nachrichten die ständig steigenden Zahlen an Krankheits- und Todesfällen – und zwar exakt auf die Einerstelle genau. Dennoch ist es eine Wissensillusion: Die Daten sind nicht aktuell, verzögert durch Inkubationszeiten und verspätete Meldungen. Die Daten sind nicht repräsentativ, weil man nur Kranke testet. Die Daten sind nicht vollständig, denn unspektakuläre Krankheitsverläufe treiben die Dunkelziffer auf eine undefinierte Höhe.
„Wir müssen in ein paar Monaten eventuell um Verzeihung bitten, da wir uns bezüglich des Virus geirrt haben.“
Jens Spahn
In diese Unsicherheit hinein wirkt es entspannend, daß bald ein Virologe ruhig und sachlich über das Virus informiert. Nun kann die Politik die Forderung der Klimaaktivistin Greta Thunberg beherzigen: „Hört auf die Wissenschaft!“ Doch leider spricht die Wissenschaft nicht mit einer Stimme: Bald melden sich Infektiologen, Epidemiologen, Lungenärzte, Pathologen, Palliativmediziner, Psychologen und sogar Statistiker zu Wort. Sie bringen neue, teils widersprechende Sichtweisen in die Diskussion, stellen manches von dem, das wir zu wissen glauben, in Frage, interpretieren Zahlen neu. So funktioniert die Wissenschaft. Aber was soll der Laie denn mit diesem interdisziplinären Informations-Wirrwarr anfangen? Wem soll man denn da noch glauben? Wie kann die Politik da noch sinnvoll entscheiden?
Widersprüchliche Welt
Wir wünschen uns klare Ansagen und ein klares Bild der Dinge. Das Paradebeispiel für solche Klarheit gibt die Physik. Zumindest in den Schulbüchern ist dort alles eindeutig und logisch – so, wie es Ende des 19. Jahrhunderts war: Damals glaubten die Physiker, im Großen und Ganzen verstanden zu haben, wie die Welt funktioniert. Dann kam Einstein und erklärte das vermeintlich Absolute für relativ. Nur wenig später präsentierte die Quantenphysik ein noch verrückteres Denken. Die Dinge waren nun unscharf und unentschieden. Das war selbst Einstein zu viel: „Gott würfelt nicht!“
Unsere Erkenntnis ist Stückwerk.
Am Münchner Wohnhaus des Quantenphysikers Werner Heisenberg soll auf einer Gedenktafel stehen: „Heisenberg könnte hier gewohnt haben.“ Ich weiß nicht, ob das stimmt. Zumindest ist es gut ausgedacht. Es spielt auf die Heisenbergsche Unschärferelation an. Sie besagt, daß wir nie alles wissen können. Haben wir eins erkannt, bleibt anderes zwangsläufig unbestimmt. Unsere Erkenntnis ist Stückwerk.
Inzwischen sind sowohl die Relativitätstheorie, als auch die Quantenphysik als Grundpfeiler der Physik anerkannt. Dummerweise widersprechen sie einander. Mit einem anderen Widerspruch, der Doppelnatur des Lichts, haben die Physiker gelernt zu leben: Licht besteht gleichermaßen aus Wellen, wie aus Teilchen – obwohl ein größerer Gegensatz in der klassischen Physik wohl kaum vorstellbar ist. Doch wirklich unerträglich ist die Spannung, daß zwei einander widersprechende Theorien nebeneinander existieren können. Deshalb suchen die Physiker nach der Weltformel, die beides harmonisiert – bisher vergeblich.
Haßrede und Verschwörungstheorien
Die Physiker schaffen es vielleicht ohne Ambiguitätstoleranz. Sie forschen einfach weiter. Im Alltag brauchen wir aber Ambiguitätstoleranz. Was passiert, wenn sie fehlt, sehen wir aktuell in der Coronakrise: Die nagende Unsicherheit verlangt nach Sicherheit, und sei es nur die Scheinsicherheit von Scheinwissen. Obwohl es eigentlich nötig wäre, das ganze Bild zu sehen und neue Erkenntnisse der auf Hochtouren laufenden Forschung zu integrieren, polarisieren sich Meinungen: Politik und Leitmedien greifen sich aus dem Wissensdurcheinander ihre Linie heraus und widersprechen Vertretern anderer Meinungen – selbst wenn sie Doktor- oder Professorentitel tragen. Die Polarisierung spiegelt sich in den sozialen Medien wider und verschärft sich weiter, bis hin zur Haßrede. Weil man einfache Erklärungen sucht und Schuldige braucht, bilden sich Verschwörungstheorien heraus. Am Ende gehen die Leute auf die Straße…
„Wir müssen einfach ruhig bleiben. Es ist nicht an der Zeit, einander die Schuld zu geben. Es ist nicht an der Zeit zu sagen: ,Ich hatte Recht, du hattest Unrecht.‘“
John Ioannidis
Ähnliches kennen wir schon aus der Diskussion um den Klimawandel: Hier ist die Polarisierung in „Klimaalarmisten“ und „Klimaleugner“ weit fortgeschritten und unversöhnlich. Der Weltklimarat tut allerdings mit seiner jede weitere Diskussion ausschließenden Haltung dem eigenen Anliegen keinen guten Dienst. Denn die Basis des Erkenntnisgewinns ist der fortlaufende Diskurs. Es ist schlicht unwissenschaftlich, zu sagen: „So ist es, und nun Schluß mit der Diskussion!“ Seriöse Forschung hinterfragt ihre eigenen Erkenntnisse sogleich wieder selbst. Das alles bedeutet aber, daß Erkenntnis immer vorläufig, unscharf und widersprüchlich ist – um so mehr, je komplexer das Thema ist.
Öfter als uns lieb ist, müßten wir einräumen: „Wir wissen es nicht.“ Wenn wir das nicht ertragen, dann verläßt die Diskussion unweigerlich die Sachebene und beginnt Personen zu diffamieren: „Klimaleugner!“ „Coronaleugner!“ Dabei lautet die Frage doch nicht: Wer hat recht? Sondern: Was ist richtig? Diese Frage zu stellen und im Dialog auf der Sachebene bleiben zu können, wird angesichts weiter zunehmender Komplexität auch in Führungsetagen und Arbeitsteams immer wichtiger.
Unsicherheit ertragen lernen
Wie „erzeugt“ man eigentlich Ambiguitätstoleranz? Geht das auch im Arbeitsumfeld? Wie haben sie das im Studium gemacht? Wir Studienanfänger hatten viel Interesse am Fach und am Umgang mit Menschen mitgebracht. Beim Kennenlernen hatten wir einander noch gefragt: „Hast du auch schon das neueste Buch von xy gelesen?“ Doch das beginnende Studium zog uns erst mal den Boden unter den Füßen weg. Alles, was wir zu wissen glaubten, galt nichts mehr. Unsicherheit pur! Freier Fall! Und dann entstand nach und nach neuer, tragfähiger Grund, auf dem wir sicher stehen konnten.
Dazu muß man wissen: Wie andere Wissenschaften, ist auch die Psychologie kein homogenes Fachgebiet. Sie kennt verschiedene grundlegende, einander teils widersprechende Denkansätze. Jedem dieser Ansätze liegt ein bestimmtes Weltbild zugrunde, und damit auch ein bestimmtes Menschenbild, samt einem Bild davon, was Gesundheit ist, wie Krankheit entsteht, und wie sie sich folglich heilen läßt. Man vermittelte uns zunächst den akademieeigenen Denkansatz von den weltanschaulichen Grundlagen her beginnend – buchstäblich von Grund auf.
Alles, was wir zu wissen glaubten, galt nichts mehr.
So auf stabilem Grund stehend, lernten wir auch die Denkansätze anderer Schulen kennen: Welche Welt- und Menschenbilder liegen ihnen zugrunde? Was ist gleich, was ist anders? Was können wir annehmen, was müssen wir ablehnen? Was können wir von ihnen lernen, und wie ließen sich die Denkansätze weiterentwickeln? Solche Betrachtungen machten demütig: Unsere Erkenntnis ist Stückwerk – wie die Erkenntnis der anderen auch. Aber wenn wir unsere Puzzlestücke zusammentragen, auch die uns fremden, kann daraus ein größeres, genaueres Bild von der Welt entstehen.
Neues Wissen generieren
Warum schreibe ich das alles? Die Wissensgesellschaft verändert die Arbeit zunehmend: Nicht mehr der Chef ist es, der alles weiß, und deshalb Weisungen gibt. Sondern jeder Mitarbeiter verfügt über seinen eigenen, individuellen Wissensschatz – je nachdem, welche Vorerfahrungen er hat und wo im Wertschöpfungsprozeß er arbeitet. Diese Wissensschätze zu erschließen und fürs Unternehmen nutzbar zu machen, ist die Herausforderung. Teams der Wissensarbeit sind fachlich interdisziplinär und menschlich vielgestaltig. Wissenshorizonte und Sichtweisen prallen aufeinander und wollen geklärt und geteilt werden.
„Umgang mit Wissen ist Umgang mit anderen Menschen.“
Erik Händeler
Gefordert ist hier nicht das bisher so gern gesehene Durchsetzungsvermögen, sondern die Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten, den anderen reden zu lassen – und ihm zuzuhören –, die Stückwerkhaftigkeit der eigenen Erkenntnisse stehenzulassen, die verschiedenen Puzzleteile zusammenzulegen und daraus gemeinsam das größere Bild zu formen. Und dann: Es auszuhalten, daß auch dieses größere Bild immer noch lückenhaft und unscharf ist und keine wirklich sichere Grundlage für eine Entscheidung liefern kann. Viele dieser Fähigkeiten haben wir in der Schule nicht gelernt.
Kann das Feelgood Management diese Fähigkeiten „erzeugen“? Vielleicht. Es fördert jedenfalls eine gute Kommunikations-, Streit- und Fehlerkultur – Grundvoraussetzungen für das Zusammentragen des vorhandenen Wissens im Unternehmen. Und für das Generieren neuen Wissens. Und für einen produktiven Umgang mit den unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten und Wissenslücken. Das können wir gar nicht hoch genug schätzen in Zeiten, da Wissen erfolgsentscheidender Schlüsselrohstoff ist, uns aber zugleich die Komplexität unserer Welt immer stärker auf die Lückenhaftigkeit unseres Wissen stößt.