Corona: Was daraus Gutes werden kann

Vor gut 30 Jahren in der DDR: Täglich sog man die Nachrichten auf, die Ereignisse überschlugen sich – und dann fiel über Nacht die Mauer: Freiheit, Reisen, Konsum. Wahnsinn! Man erlebte hautnah Zeitgeschichte. Heute saugt man wieder alle Nachrichten auf, wieder überschlagen sich die Ereignisse – und dann steht über Nacht das Leben still: Reisebeschränkungen, Kontaktsperren, Hamsterkäufe. Ein Virus zwingt die Welt zur Vollbremsung. Auch das ist Zeitgeschichte.

Die meisten heute lebenden Menschen haben nie eine wirklich schwere Krise erlebt. Oder doch? Die Klimakrise galt eben noch als die schwerste Krise unserer Zeit. Und ja, sie hat der Industrie, der Land- und Forstwirtschaft drastisch gezeigt, daß manches nicht so weitergehen kann wie bisher. Für die meisten von uns vollzog sich die Klimakrise dagegen eher in den Medien – was freilich die Angst vor der Zukunft nicht weniger real machte. Die Coronakrise dagegen ist für jeden von uns zutiefst existentiell.

Das Coronavirus zwingt die Welt zur Vollbremsung.

Niemand weiß, wie lange es dauert, und was als nächstes kommt. Kann das krankgesparte und überforderte Gesundheitswesen die Last wirklich stemmen? Manche Ökonomen sehen in der Coronakrise den Auslöser für den lange verschleppten Wandel in der Arbeitswelt. Sollte es so sein, dann wäre das gut. Denn die Krise stößt uns ja direkt darauf, wie viel daran hängt, daß der Mensch gesund ist. Jedoch hat sich über die Jahrzehnte so viel Veränderungsdruck aufgestaut, daß auch dieser Wandel disruptiv und krisenhaft verlaufen wird. Wie viele Unternehmen werden das überleben? Wie viele Menschen werden betroffen sein?

Von X-Events und Schwarzen Schwänen

Krisen lehren uns, daß wir nicht die Kontrolle haben. Sie zwingen uns zu Anpassung und Reaktion – obwohl wir doch lieber planen und steuern. Sie lassen unsere Kontrollillusion platzen. Das ist gut, denn es ist eine Illusion. „Wir verlieren die Kontrolle über das Klimasystem“, klagt der Klimafolgenforscher Stefan Rahmstorf mit Blick auf die Rekordhitze des letzten Sommers. Doch hatten wir je Kontrolle über das Klima? Hatten wir je Kontrolle über das hochkomplexe System der weltweit übervernetzten Wirtschaft?

„Die Komplexitätsexplosion gebiert Ungeheuer.“
Holm Friebe

Wo komplexe Teilsysteme eng und ungepuffert gekoppelt sind, entstehen Cluster risks („Klumpenrisiken“): Was in einem Teilsystem passiert, wirkt unmittelbar in benachbarte Teile hinein. Geht dabei etwas schief, dann passiert Clusterfuck – ein kaskadenartiges Ereignis, dessen Größe und Auswirkungen die Problemlösefähigkeiten der Beteiligten überfordern. Dann fällt ein Dominostein nach dem anderen – unaufhaltsam. Der Zukunftsforscher John Casti nennt solche Superkatastrophen X-Events. Der Buchautor Nassim Taleb spricht von Schwarzen Schwänen – unerwarteten Ereignissen, die so selten sind wie schwarze Schwäne, und die stets aus der Richtung „angeflogen“ kommen, die man nicht auf dem Radar hat.

Störungen komplexer Systeme müssen nicht zum Totalzusammenbruch führen.

Doch genug des Katastrophendenkens. Das Zukunftsinstitut macht aus dem X-Event kurzerhand ein Y-Event: Störungen komplexer Systeme müssen nicht zum Totalzusammenbruch führen – sie können auch Quelle des Lernens und der Weiterentwicklung sein. Hier tauchen Begriffe wie Emergenz, Selbstorganisation und Resilienz auf: Je komplexer unsere Welt werde, desto besser könne sie mit Störungen umgehen. Komplexität führe nicht zum Zerfall, sondern zur Selbststabilisierung. Krisen seien die Trainer für immer intelligentere Antworten. Das allerdings brauche ein neues Denken. Gefragt ist jetzt mehr denn je der Mensch, denn künstliche Intelligenz und digitale Maschinen entstammen dem Alten und können uns nicht ins Neue helfen.

Was ist das Gute daran?

Menschen sterben, Existenzen stehen auf dem Spiel, die Wirtschaft droht zu kollabieren: Darf man in solch einer Situation die Frage nach dem Guten daran überhaupt stellen? Ja! Als Coach stelle ich sie immer dann, wenn es wirklich schlimm ist. Sie hilft die Dominanz der negativen Emotionen zu brechen und den Blick zu erweitern. Erst dann kann man die Situation neu bewerten und kreative Lösungen finden. Gibt es also Gutes an der Krise? Ja! Das Wort Krise selbst bedeutet ja Wendepunkt – hoffentlich zum Guten hin.

„Krise ist ein produktiver Zustand. Man muß ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Max Frisch

Zunächst: Auch wenn wir Abstand halten müssen, scheint es in unserer Gesellschaft so etwas wie ein innerliches Zusammenrücken zu geben. Solidarität und Hilfsbereitschaft sind derzeit oft gehörte Begriffe, und wir werden noch viel mehr davon brauchen. Der Umgangston in den sozialen Netzwerken scheint sich zu beruhigen. Die erzwungene Reduktion auf das Wesentliche entschleunigt unsere überhitzte Gesellschaft und ermöglicht uns, wie es jemand formulierte, „den drei Haupt-Unruhestiftern des Menschen – Machenmüssen, Geltenmüssen, Habenmüssen –“ zu entgehen.

Unsere Welt wird eine andere sein, und auch wir Menschen werden andere sein.

Daß praktisch alle Bereiche unserer Gesellschaft synchron an einem Wendepunkt sind, ist eine historisch einmalige Situation. Was für eine Gelegenheit zum Neuanfang! Was immer in der Krise passiert, was immer dabei kaputt geht, und welche Abgründe wir dabei durchschreiten müssen – danach kann es nicht mehr so weitergehen, wie bisher. Unsere Welt wird eine andere sein, und auch wir Menschen werden andere sein. Gute Chancen für einen Neuanfang zu etwas Besserem. Dafür lautet – so das Zukunftsinstitut – jetzt die Herausforderung: Existenzängste und Verzweiflung zu überwinden und in eine nüchterne und optimistische produktive Anspannung kommen. Schauen wir jetzt mutig auf die Zeit nach Corona.


Offenlegung: Die wiederholten Nennungen oder Verlinkungen des Zukunftsinstituts sind keine bezahlte Werbung. Ich schätze vielmehr die nüchternen und weitreichenden Überlegungen des Zukunftsinstituts in der jetzigen Situation als hilfreich und orientierunggebend.