Nun sind sie also draußen, die Briten – auch wenn immer noch vieles ungeklärt bleibt. Der Brexit ist Aufmacher im aktuellen Newsletter des Zukunftsinstituts. Zu eindimensional sei die Frage „Gehen oder bleiben?“, die man dem Volk vorlegte. Sie werde nicht im geringsten der Komplexität der Situation gerecht. Wie hätte man sie besser stellen können?
Das Zukunftsinstitut geht auf eine Reise durch die Dimensionen, um die besonderen Herausforderungen der Komplexität zu verdeutlichen. Ich habe bereits einen Grundlagenartikel zur Komplexität geschrieben. Die Sache mit den Dimensionen ist nicht nur erstaunlich einleuchtend, sondern auch weiterführend, so daß sie einen weiteren, ergänzenden Beitrag wert ist.
Durch die drei Dimensionen…
Die Wirtschaft, so der Autor des Beitrags, Harry Gatterer, funktioniere eindimensional: Ziele, Ergebnisse, Kennzahlen – alles eindimensional. Das Bild dafür seien Linien, auf denen sich Plus oder Minus, mehr oder weniger abbilden ließen. Der Autor nennt ein Beispiel für ein eindimensionales Ziel: „Nächstes Jahr wollen wir ein Plus machen.“
Die Wirtschaft funktioniert eindimensional: Ziele, Ergebnisse, Kennzahlen.
Eine Fläche, etwa ein Quadrat, ist zweidimensional. Das sei die Welt der Diagramme, Texte, Flowcharts, Organigramme und Achsenmodelle. Man könne darauf Relationen und Bezüge darstellen, Hierarchien, Netzwerke und Prozesse. Diese Darstellungen seien einfach zu verstehen, doch entsprächen sie nicht der Komplexität unserer Welt.
Der Würfel als dreidimensionales Gebilde stehe für den Raum, in dem wir leben, interagieren, etwas bewegen. Er sei, so der Autor, zu einer wahren Management-Philosophie avanciert. Wir gestalteten Arbeitsumgebungen bewußter, spielten in neuen Designmethoden mit den Dimensionen des Raumes, und manchmal bringe ein Ortswechsel in externe Räume den entscheidenden Impuls für neue Ideen.
Ein typisches Beispiel für den Versuch, eine dreidimensionale Entscheidung eindimensional zu ergründen.
Bis hierher ist uns alles sehr vertraut. Es ist die Welt, in der wir als dreidimensionale Wesen leben. Wie treffen wir darin Entscheidungen? Der Autor nennt ein Beispiel aus seiner Beratertätigkeit: Ein CEO überlegt hin und her, ob er das veraltete Headquarter seines Unternehmens umbauen oder auf grüner Wiese einen Neubau errichten sollte. Kosten und Nutzen, Vorteile und Nachteile hielten sich ungefähr die Waage. Es sei ein typisches Beispiel für den Versuch, eine dreidimensionale Entscheidung eindimensional zu ergründen.
… in die vierte Dimension
Die Gegenfrage des Beraters stößt in eine neue Dimension vor: „Glauben Sie, daß in den neuen Räumen das Potential Ihres Unternehmens völlig neue Energien erhält? Denken Sie, Ihre Mitarbeiter könnten ganz neue Gedanken und vielleicht dann auch Business-Optionen entwickeln?“ Jetzt ist die Entscheidung für den CEO ganz einfach: „Ja, das glaube ich.“
Wenn man eine Linie in eine neue Dimension verschiebt, entsteht eine Fläche, beispielsweise ein Quadrat. Wenn man ein Quadrat wiederum in eine neue Dimension verschiebt, entsteht daraus ein Würfel. Und – hier verläßt uns unser Vorstellungsvermögen – wenn man den Würfel wiederum in eine neue Dimension verschiebt, entsteht ein Hyperwürfel.

Quelle: Wikimedia, Autor: Jason Hise, gemeinfrei
Um die dritte Dimension eines Würfels auf einer zweidimensionalen Fläche darzustellen, zeichnen wir schräge Linien – obwohl die Dimensionen alle rechtwinklig zueinander stehen. Um die vierte Dimension eines Hyperwürfels, dargestellt auf einer zweidimensionalen Fläche wie eben diesem Monitor oder Display, irgendwie für unser dreidimensional denkendes Hirn erahnbar zu machen, geht es nicht mehr ohne Bewegung. Dennoch mag die Darstellung sehr verwirrend sein. Deshalb ein unbewegter Screenshot daraus zur Betrachtung in Ruhe:

Dieser Moment scheint einen Würfel in einem Würfel zeigen. In der vierdimensionalen Welt ist das, was hier innen erscheint, zugleich außen – noch weiter außen, eben in der unsere dreidimensionale Welt umfassenden vierten Dimension. Die bewegte Darstellung oben zeigt, wie sich das Innere nach außen kehrt, und umgekehrt.
Das Verborgene beobachten
Trotzdem ist es ein geniales Bild für die Komplexität. Es versinnbildlicht die hinter der sichtbaren Oberfläche verborgenen Ebene von Wirkzusammenhängen, das Implizite. Wir können bestenfalls einen Teil davon wahrnehmen, das meiste bleibt verborgen. Aber dennoch wirkt es. Das ist die große Herausforderung der Komplexität. Es bedeutet weitgehend Handeln im Blindflug.
„Die vierte Dimension, das Implizite, ist es, worüber wir uns in den nächsten Jahren noch viel mehr Gedanken machen müssen“
Harry Gatterer, Zukunftsinstitut
Um diese verborgene Dimension wahrnehmen zu können, so Autor Harry Gatterer, müssen wir sie „gekonnt beobachten“. Damit sei eine neue Fähigkeit gefragt: Könne man bis zur dritten Dimension managen und gestalten, so könne man in der vierten Dimension nur beobachten. Das allerdings, so Gatterer in einem Video zum Thema, sei nicht nebenbei möglich: Man könne sich dem Impliziten nicht nähern, wenn man in einer permanenten Überforderung vor sich hinhechele.
Und damit nimmt das Thema eine erstaunliche Wendung. Um in einer Welt der Komplexität entscheidungs- und handlungsfähig zu bleiben, gilt eines: Streß raus! In einer von Gewinnstreben und Sparzwängen bestimmten Unternehmenskultur, in der immer weniger Menschen immer schneller arbeiten müssen, gibt es kaum eine Möglichkeit, das Implizite zu beobachten. Und es gilt ein zweites: Miteinander reden! In einer von Wettbewerb und Konkurrenzdenken bestimmten Unternehmenskultur, in der man sein Herrschaftswissen lieber für sich behält, bleiben Beobachtungen des Impliziten dem Unternehmen unzugänglich.
„Die gute Nachricht ist: Wenn es mir gelingt zu beobachten, dann habe ich meistens den nächsten Schritt schon gemacht.“
Harry Gatterer, Zukunftsinstitut
Wenn es um Unternehmenskultur geht, und insbesondere um Kommunikationskultur, gibt es Arbeit für den Feelgood Manager. Diese Arbeit ist in komplexen Umfeldern kein Luxus, sondern überlebenswichtiges Fundament. Denn Komplexität erfordert menschliche Fähigkeiten, die Maschinen nicht übernehmen können. Maschinen, und seien sie noch so intelligent, können immer nur komplizierte Probleme lösen. Aber keine komplexen.
Kein Platz für Beobachter?
Leider ist die Gabe der Beobachtung ungleich verteilt. Vor allem introvertierte Menschen sind ausgesprochen gute Beobachter – und damit übrigens auch gute Problemlöser. Doch gelten sie weithin als Minderleister. Zu unrecht. Sie lösen Probleme, ohne viel zu reden. Sie tun ihre Arbeit, ohne beim Handwerk zu klappern. Was sie sagen, das hat meist Hand und Fuß. Doch zu oft machen sie die Erfahrung, daß man nicht hören will, was sie zu sagen haben – vielleicht weil die anderen zu viel reden, oder weil karriereorientierte Kollegen ihren Wissensvorsprung als Bedrohung wahrnehmen.
Also behalten sie ihre Beobachtungen eben für sich. Damit ist ihre Gabe für das Unternehmen verloren. Nur sie selbst haben dann noch etwas davon: Wenn der Knall kommt, den sie frühzeitig haben kommen sehen, bringen sie sich rechtzeitig aus der Schußlinie.
Damit ist ihre Gabe für das Unternehmen verloren. Nur sie selbst haben dann noch etwas davon.
Doch die Beobachter wertzuschätzen, sie wahrzunehmen, zu fragen und auf das zu hören, was sie zu sagen haben, ist nicht nur eine Sache der Unternehmenskultur. Das Problem sitzt tiefer. Schon der Blick auf die Persönlichkeitseigenschaft Introversion ist weithin verzerrt: So kennt der weit verbreitete Big Five-Persönlichkeitstest nur die Skala „Extraversion“, einhergehend mit einer Reihe positiver Persönlichkeitsmerkmale. Eine hohe Introversion stellt der Test als wenig Extraversion dar – die Stärke erscheint zwangsläufig als Defizit, obendrein verknüpft mit entsprechend gegensätzlich-negativen Persönlichkeitsmerkmalen.
Hinzu kommt: Auch das Bewerbungsprozedere ist auf Extravertierte angelegt: Man muß sich darstellen, präsentieren und Selbstbewußtsein demonstrieren. Introvertierte können zwar in eine extravertierte Rolle schlüpfen, wenn es sein muß. Aber sie machen das nur ungern, denn sie finden solche Oberflächlichkeiten unsinnig oder peinlich. Ihnen geht es mehr um Substanz als um Äußerlichkeiten. Meist verdirbt ihnen schon die extravertierte Sprache der Stellenanzeigen die Lust, sich zu bewerben, obwohl sie den Job könnten. Ich vermute deshalb eine Schieflage in den meisten Unternehmen: Es gibt zu wenig Menschen mit der Gabe der Beobachtung. Das war kein Problem in komplizierten Zeiten, wird aber in komplexen Zeiten zur Überlebensfrage.
Die richtigen Fragen stellen
100 Jahre lang waren die Verhältnisse in der Wirtschaft vergleichsweise einfach. Genauer gesagt: kompliziert. Vorher war das anders. Und auch jetzt wird es wieder anders: Die Komplexität steigt fortwährend. Das illustriert die „Taylor-Wanne der Komplexität“ bildhaft. Frederick Taylors Wirken verdanken wir die Abnahme von Komplexität in der Arbeitswelt, der Digitalisierung und der Globalisierung die erneute Zunahme von Komplexität.

Quelle: Niels Pfläging, Slideshare.net, Folie 16, mit freundlicher Genehmigung
Komplexität ist radikal anders als das bisher Gewohnte – es braucht eine radikal neue Art zu denken, neue Fähigkeiten, eine neue Unternehmenskultur und … neue Fragen. Die vom oben erwähnten CEO gestellte Frage „Umbau oder Neubau“ ist zu kurz gedacht. Ebenso die anfangs genannte Brexit-Frage „Bleiben oder gehen“. Solch eindimensionale Fragen lassen sich in einem komplexen Umfeld kaum noch befriedigend beantworten. Eher polarisieren sie – deutlich erkennbar in der Politik und in den sozialen Netzwerken. Es braucht eine gute Portion Beobachtung und Reflexion des Impliziten, um geeignete Fragen zu stellen, die nicht mit einem schnellen Ja oder Nein abgehakt sind, sondern zum Weiterdenken anregen.
Hier als Beispiel die Frage, die das Zukunftsinstitut als Brexit-Frage vorgeschlagen hätte – freilich nicht geeignet für eine Ja/Nein-Volksabstimmung, aber ein guter Einstieg in weiterreichende Überlegungen:
„Was ist in Zukunft die Rolle des Vereinigten Königreichs in einer vernetzten Welt?“