Gerade erst vor einer Woche schrieb ich, Vertrauen sei besser als Kontrolle. Vor zwei Tagen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden, Kontrolle sei besser als Vertrauen. Arbeitgeber sollen künftig Arbeitszeiten und Überstunden vollständig erfassen und dokumentieren, damit man kontrollieren könne, ob sie die Arbeitszeitgesetze einhalten. Das deutsche Arbeitszeitgesetz schreibt bisher nur die Erfassung von Überstunden vor.
Als ich diese Nachricht hörte, mußte ich sofort an die unvergessene Eulenspiegel-Karikatur aus DDR-Zeiten denken, die ich ausgeschnitten in so manchem Büro hängen sah: Ein Mann sitzt untätig an seinem Schreibtisch und sinniert: „Ich bin da, also arbeite ich.“ Steht die gute alte Zeit wieder auf, als Arbeit mehr aus Anwesenheit als aus Leistung bestand?
Was Vertrauen bewirkt
Bei meinem letzten Arbeitgeber gab es keine Zeiterfassung. Man vertraute den Mitarbeitern – so etwas kannte ich bis dahin nicht. Wenn einem Vertrauen entgegengebracht wird – so zumindest meine Erfahrung –, will man es nicht enttäuschen. Im Gegenteil, man rechnet selbst großzügiger bei den Arbeitszeiten. Mal etwas länger bleiben, um eine angefangene Arbeit noch zu beenden – das war kein Problem und fühlte sich nicht als Last an.
Wenn einem Vertrauen entgegengebracht wird, will man es nicht enttäuschen.
Das Unternehmen war erfolgreich und wuchs stark – so stark, daß die Geschäftsführung befürchtete, ihr entgleite die Kontrolle. Sie zog die Zügel an. Damit veränderte sich das Betriebsklima. Plötzlich gab es Zeiterfassungsterminals samt detaillierter Betriebsvereinbarung darüber, wer bei welcher Gelegenheit welches Terminal zu benutzen habe. Mein Chef murmelte einmal mit Blick auf die Erfassungslisten: „Komisch. Seit wir die Arbeitszeiten erfassen, machen alle pünktlich Feierabend…“ Damit hat er den Punkt getroffen. Wozu sollte man auch freiwillig länger bleiben? Ein Unternehmen, in dem der Kontrollgeist das Ruder übernahm, lud nicht zur Großzügigkeit ein.
Natürlich kann man einwenden, Vertrauensarbeitszeit sei – wie auch andere Maßnahmen, die es schön und angenehm am Arbeitsplatz machen – ein Mittel, die Mitarbeiter zu längerem Bleiben, also zu mehr Arbeit zu bewegen. Feelgood Management muß sich bewußt sein, daß man es prinzipiell mißbrauchen kann. Und es muß im Blick behalten, daß Mitarbeiter, denen man Selbstverantwortung zutraut und aufträgt, in die Falle der Selbstausbeutung tappen können.
Moderne Arbeit, alte Methode
Doch das ist noch nicht alles: Am Hochofen oder an der Supermarktkasse lassen sich Arbeitszeiten und Überstunden sicher minutengenau erfassen. Aber wie machen das Außendienstler? Und wie ist das mit der Kreativ- oder Wissensarbeit? Kreativität richtet sich nicht nach der Stechuhr. Die Gedanken, die man während der Arbeitszeit bewegt hat, läßt man auch nach dem Ausstempeln nicht im Büro. Der lange gesuchte, entscheidende Einfall kommt vielleicht bei der Gartenarbeit oder unter der Dusche. Was ist Arbeit, was Freizeit? Was „Work“, was „Life“?
Diese zunehmende Entgrenzung moderner Arbeit ist – auch für das Feelgood Management – ein ernstzunehmendes und trotz mancher Lösungsversuche bisher ungelöstes Problem. Zumindest ist „Work-Life-Blend“, also die Vermischung von Arbeit und Freizeit, aus psychologischer Sicht keine Lösung: Lebendiges lebt vom Wechsel von Anspannung und Entspannung. Diesen Rhythmus des Lebens dürfen wir nicht auflösen. Wir brauchen dafür neue, kreative Lösungen. Ein Zurück zu alten Strukturen kann in Zeiten der Digitalisierung nicht die Lösung sein.
Auch damit noch nicht genug: Die Regierungen der EU-Länder müssen nun das EuGH-Urteil in geltendes Recht umwandeln. Sie müssen also Gesetze machen – und das, obwohl Arbeit ohnehin schon überreguliert ist. Ein Unternehmer beklagte schon vor Jahren, er müsse sich an 80.000 Paragraphen halten. Da man das alles unmöglich penibelst einhalten könne, stehe man als Unternehmer immer schon mit einem Bein im Gefängnis. Obendrein erzeugt jedes Gesetz einen ganzen Rattenschwanz von Bürokratie, denn man muß ja die Einhaltung kontrollieren und Übertretungen bestrafen. Bürokratie aber trägt nicht zur Wertschöpfung bei – sie vernichtet Werte.
„Wenn man alle Gesetze studieren sollte, so hätte man gar keine Zeit, sie zu übertreten.“
Johann Wolfgang von Goethe
Wenn das neue Gesetz der sich wandelnden und immer komplexer werdenden Arbeitswelt gerecht werden will, müßte es viele Sonder- und Ausnahmeregelungen enthalten. Es muß also selbst komplex sein. Damit wird es unverständlich und unüberschaubar. Das schafft Rechtsunsicherheit und steigert die Gesamtkomplexität weiter. Letzten Endes passiert vielleicht das, was schon die DSGVO, die Datenschutzgrundverordnung, erreicht hat: Die Großen machen weiter wie bisher, während die Kleinen unter der Bürokratie kollabieren.
Umkehr ist nötig
Wir stehen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch an einem Punkt, an dem es nicht mehr so weitergehen kann, wie bisher. Wenn wir nicht noch weiter in Komplexität versinken wollen, müssen wir Vertrauen wagen. Denn Vertrauen reduziert Komplexität. Vertrauen allerdings erfordert eine gemeinsame Wertebasis: eine Ethik, der wir uns alle verpflichtet fühlen. Die ist uns über die Jahrzehnte verlorengegangen: Die Gesellschaft zerfällt in unzählige Egoismen. Jetzt müssen es immer mehr Gesetze richten.
Die Arbeit des Feelgood Managers hätte damit auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension.
Wie kann es weitergehen? Wie kommen wir da wieder raus? Wir brauchen wieder Gemeinschaft und Gemeinsamkeiten, vielleicht in Form gemeinsamer Anliegen. Das kann nur in kleineren Einheiten beginnen – in Wohnquartieren oder Ortsteilen, in Unternehmen oder Unternehmensteilen. Gelingt es uns, in diesen Einheiten eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens bei der Arbeit an gemeinsamen Anliegen – in Unternehmen könnte das die sinnstiftende Unternehmensmission sein – zu schaffen, dann könnte aus kleinen Anfängen mit der Zeit wieder etwas Großes, Gemeinsames entstehen. Die Arbeit des Feelgood Managers im Unternehmen hätte damit nicht nur eine betriebliche, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension.
Aus dieser Sicht stellt sich allerdings um so mehr die Frage: Wie wirkt sich das EuGH-Urteil auf den bereits laufenden Wandel in Richtung Vertrauen, Selbstorganisation und Selbstverantwortung aus? Und es bleibt die Befürchtung: Wird das EuGH-Urteil so kurz vor den EU-Wahlen Wasser auf die Mühlen derer gießen, die in der EU vor allem ein Bürokratiemonster sehen, das abgeschafft gehört?