Wohin führt die Digitalisierung?

Wenn ich den Begriff Digitalisierung höre, denke ich zuerst an meinen früheren Berufsalltag: Störrische Computer, kryptische Programmiersprachen, knifflige Fehlersuchen. Dann aber auch an nützliche Dinge: Suchmaschinen, Navigationsgeräte, Online-Kurse. Und dann unausweichlich: Datensammelei, Schadsoftware, Sicherheitslücken.

Das alles ist die Gegenwart. Aber wovon spricht man, wenn man sagt, die Digitalisierung sei die Zukunft? Solange Begriffe nur Begriffshülsen sind, bleibt die Sprache vage und unscharf. Und mit ihr auch das Denken: Die einen projizieren ihre Technikbegeisterung da hinein, die anderen ihre Ängste. So widersprüchlich die digitale Gegenwart, so widersprüchlich die digitale Zukunft.

Kürzlich stieß ich auf einen Artikel in der Computerwoche, der das vollständig digitale Unternehmen beschreibt. Der Autor schickt voraus, daß ihm bei seinen Recherchen immer wieder Unsicherheit und Erschrecken begegnet sei: „Wo bleibt der Mensch?“ Die Antwort müsse er schuldig bleiben, denn die Rolle des Menschen in der Gesellschaft von morgen sei ein ungeschriebenes Buch: „Was uns bleibt, ist daran zu glauben, daß der Mensch seine Rolle finden wird.“

Wo die Digitalisierung endet

Dennoch begrüße ich seinen Versuch, einen Verlauf zu skizzieren, der an den Punkt führt, „wo die Digitalisierung endet“. So entsteht endlich ein vorstellbares Bild des voll durchdigitalisierten Unternehmens. Zugleich entsteht ein Bild des Weges der Digitalisierung als eines Prozesses der ständigen Erneuerung und Veränderung. Das, so der Autor, helfe Unternehmen, ihren digitalen „Reifegrad“ zu bestimmen und daraus ihre Digitalisierungsstrategie abzuleiten. So weit will ich hier aber nicht gehen.

Für die Kommunikation mit den Kunden gibt es Chatbots.

Interessant ist vielmehr der angestrebte Endzustand: Alle Prozesse im Unternehmen seien datengetrieben. Selbstlernende Algorithmen bezögen Istzustände, Zielvorgaben und aus dem Internet extrahierte Trends in die Planung und in ihre Entscheidungen ein. Die Produktion laufe vollautomatisch. Roboter übernähmen die Wartung der Maschinen. Die Software überwache sich selbst und behebe automatisch Fehler – notfalls durch einen Neustart eines Systems.

Die Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen erfolge automatisch über spezielle Bieterplattformen, die Software bewerte die verschiedenen Angebote und treffe dann ihre Entscheidung. Für die Kommunikation mit den Kunden gebe es Chatbots, Werbung werde personalisiert und automatisch in die Social Media-Kanäle eingespeist. Effizienz und Produktivität des Unternehmens würden ausschließlich durch die Optimierung der Software bestimmt. Da Hardware und Maschinen für alle Unternehmen identisch seien, schaffe allein die Software den nötigen Vorsprung im Wettbewerb.

Keine fehlerfreie Software

Soweit die Vision. Wenn ich mir vorstelle, das alles läuft auf Windows 10, zerstiebt sie schlagartig vor meinem Auge. Na gut, sicher gibt es zuverlässigere Plattformen für so etwas. Doch die Anforderungen an die systembedingt störanfällige, weil hochgradig komplexe Digitaltechnik sind gewaltig. Allein die ständig fälligen System- und Sicherheitsupdates bringen immer wieder neue Fehler- und Unsicherheitsquellen in die Fabrik. Wenn ich bedenke, daß in solch einer Fabrik Hunderte oder Tausende automatischer Komponenten eng zusammenarbeiten, und an jeder einzelnen dieser Komponenten alle möglichen Störungen auftreten können, die sich auf das ganze System auswirken, dann kann ich mir nicht vorstellen, daß das ganz ohne menschliches Eingreifen geht.

Allein die ständig fälligen System- und Sicherheitsupdates bringen immer wieder neue Fehler- und Unsicherheitsquellen in die Fabrik.

Denken wir nur an die digitale Gegenwart: Heerscharen von Entwicklern sind ununterbrochen damit beschäftigt, Fehler und Sicherheitslücken in der Software zu beseitigen und daraus eine neue Version zu machen. Weil die Änderungen unvermeidlich neue Fehler produzieren, ist schon bald die nächste Version fällig. Und dann die übernächste. Prinzipiell kann es so etwas wie fehlerfreie Software nicht geben – so zumindest die Rechtsprechung. Softwarehersteller liefern deshalb Produkte aus, für die sie keine Haftung übernehmen. Das sollte sich mal ein Elektrogerätehersteller trauen.

Die Vorstellung, Software repariere und optimiere sich automatisch, ist natürlich bestechend. Kann das funktionieren? Kann Software automatisch herausfinden, daß sie fehlerfrei ist? Kann man sich sicher sein, daß der Reparaturalgorithmus selbst fehlerfrei ist? Und ist das Ergebnis automatischer Korrekturen für den beabsichtigten Zweck überhaupt noch geeignet? Sich selbst korrigierende Software – ich vermute, daß man es da irgendwann mit unüberwindlichen Problemen der Selbstbezüglichkeit zu tun bekommt. Mit anderen Worten: Irgendwann beißt sich die Katze in den Schwanz. Irgendwann läuft sich etwas fest. Und dann muß es ein Mensch wieder freiräumen.

Ein Paradies für Hacker

Pikanterweise fand sich zum Zeitpunkt des Zugriffs neben dem Computerwoche-Artikel ein Link auf einen Artikel mit der Titel „Hacking-Top 15: Die größten Cyberangriffe auf Unternehmen“. Von dort führte ein weiterer Link zum Artikel „Gefahren der Digitalisierung: Wenn Hacker den Verkehr lahmlegen“. Es ist ein regelrechtes Hase-und-Igel-Rennen zwischen Angreifern und Verteidigern. Schon der Schutz vor Cyberattacken kostet viel Geld. Richtig teuer wird es, wenn Attacken gelingen. Ist die Fabrik vollautomatisiert, dann ist das Rennen äußerst ungleich: Die Hacker sind Menschen. Und Menschen sind kreativer als programmierte Technik.

Die Hacker sind Menschen. Und Menschen sind kreativer als programmierte Technik.

Nicht ohne Grund weist auch die Beschreibung der volldigitalisierten Fabrik am Ende auf den entscheidenden Wettbewerbsfaktor Kreativität hin. Nur sie schaffe Innovationen, die das Unternehmen vom Wettbewerb abheben können. Der Autor vermeidet es hier zwar, vom Menschen zu sprechen. Doch Maschinen sind nicht kreativ. Sie tun nur das, wofür man sie gebaut oder programmiert hat. Echte Kreativität läßt sich allein dem Menschen zumessen. Egal, wie hoch die Fabriken künftig automatisiert sein werden – ich bin überzeugt: Ohne Menschen wird es nicht gehen. Auch deshalb übrigens nicht, weil ich als Kunde im Reklamationsfall gern mit einem Menschen sprechen möchte – und nicht mit einem Roboter. Auch das ist ein nicht zu unterschätzender Wettbewerbsfaktor.

Dennoch: Nur noch wenige Menschen in automatisierten Fabriken – wo bleiben dann die vielen anderen Menschen? Geht uns doch die Arbeit aus? In der materiellen Produktion schon. Aber die verliert ohnehin an Bedeutung, denn materiell sind wir mehr als genug versorgt. Neue Branchen und Berufe werden rund um immaterielle Dienstleistungen entstehen, also da, wo Menschen Menschen dienen. Vor uns liegt ein herausfordernder und für manch einen sicher auch unbequemer Wandel.

Wohin also führt die Digitalisierung?

Die Ausgangsfrage ist aber noch nicht wirklich beantwortet. Denn es ist nicht nur eine technische Frage, sondern auch eine ethische. Immer mehr Stimmen warnen, daß es mit der Digitalisierung in eine unheilvolle Richtung gehe. Nicht nur die Angriffsflächen für Erpresser, Spione und Saboteure werden immer größer. Sondern die digitale Technik selbst dient nicht mehr dem Menschen – so die Wirtschaftsinformatikerin Sarah Spiekermann, die deshalb Ethik-Richtlinien fordert. Das Zukunftsinstitut ergänzt, die Digitalisierung biete immer mehr Lösungen, für die es keine Probleme gebe. Die Digitalisierung werde zum Selbstzweck, zu einer Ideologie, gar zu einer Pseudoreligion. Man digitalisiert immer mehr um der Digitalisierung willen.

Damit geht der Digitalisierung der Sinn verloren. Warum digitalisieren wir trotzdem immer weiter? Weil es alle tun: Alle rennen um die Wette, jeder will vorn sein. Steigen wir aus, dann laufen uns die anderen davon. Das wäre nicht gut, denn die digitale Technologie ist in den Augen vieler die einzige, mit der sich Geld verdienen läßt. Also geben wir dem Herdentrieb nach. Also lösen wir jedes Problem – ganz im Sinne Paul Watzlawicks – digital.

„Wenn das einzige Werkzeug, das ich habe, ein Hammer ist, dann werde ich jedes Problem wie einen Nagel behandeln.“
Paul Watzlawick

Erschrecken wir also nicht, wenn aus der Digitalisierung irgendwann plötzlich „die Luft raus ist“. Das „nächste große Ding“ nach dem Computer kommt bereits – es ist der Mensch. Und wenn wir es schaffen, der digitalen Technik ethische Zügel anzulegen, so daß sie wieder dem Menschen dient, dann hat auch sie eine Zukunft.