Die zentrale Herausforderung des digitalen Wandels besteht darin, das volle Potential des Menschen zu erschließen. Leider ist unser Menschenbild noch ziemlich maschinenhaft. Eine Maschine tut nur das, wofür man sie konstruiert hat. Sie kann sich nicht weiterentwickeln. Der Mensch kann es: Wenn man ihn läßt, wächst er über sich hinaus. Dieser Grundlagenartikel zeigt, was dafür nötig ist.
Ende des 19. Jahrhunderts: Die Dampftechnologie war ausgereift und gehörte zum alten Eisen. Eine neue Technologie revolutionierte die Wirtschaft: Der elektrische Strom. Die „Elektrisierung“, wie man damals sagte, bewegte die Gemüter ebenso, wie heute die Digitalisierung. Elektrisch angetriebene Maschinen, immer raffinierter ausgetüftelt, waren der Renner. Es war die Blütezeit der Mechanik.
Taylor: Das Unternehmen als eine maschinenhafte Organisation, gefüllt mit maschinenhaften Menschen.
Als Frederick Taylor 1911 sein weitreichendes Werk „Scientific Management“ („Wissenschaftliche Betriebsführung“) veröffentlichte, war die Psychologie noch jung. Sie verglich – ganz dem Zeitgeist folgend – die menschliche Seele mit einer Maschine: Man sprach von „Abwehrmechanismen“ und ging zum „Seelenklempner“. Eine psychologische Schule, der Behaviorismus, machte den Menschen sogar komplett zur „Reiz-Reaktions-Maschine“: Setzt man den richtigen Reiz, dann erntet man das gewünschte Verhalten.
Auch Taylor folgte dem Zeitgeist: Er strukturierte die Organisation wie eine Maschine, gewissermaßen mechanisch zusammengebaut aus Arbeitsschritten, Abteilungen, Hierarchieebenen. Das Unternehmen als eine maschinenhafte Organisation, gefüllt mit maschinenhaften Menschen. So zynisch das klingt – es war hocheffizient und funktionierte grandios. Es paßte perfekt zusammen. Und vor allem: Es paßte in die Zeit, zu den Märkten und zu den Produkten. Es machte die „Industrie 2.0“ zu einer Erfolgsgeschichte.
Methoden statt Menschen
Wir sollten Taylor keine bösen Absichten unterstellen. Er wollte mit seinem Ansatz der wiederholbaren Arbeitsschritte und der Trennung von Denken und Handeln auch wenig gebildeten Leuten die Chance geben, am Arbeitsleben teilzuhaben. Sie sollten sogar an den Kostenvorteilen von Rationalisierung und Effizienzsteigerung Anteil haben. Jedoch hat man das in der praktischen Umsetzung vergessen. Man fokussierte auf die von Taylor entwickelten Methoden. Der Mensch wurde zum lästigen Anhängsel der Taylorisierung, ohne das es eben nicht ging. Daß er unter der Monotonie und dem Zeitdruck der Akkordarbeit litt, interessierte nicht. Der Mensch – so dachte man vielmehr – sei von Natur aus faul und unmotiviert. Man müsse ihn also irgendwie zur Arbeit treiben.
Der Mensch wurde zum lästigen Anhängsel der Taylorisierung, ohne das es eben nicht ging.
Die frühe Psychologie lieferte mit dem Behaviorismus das Instrumentarium dazu: Mit den richtigen Reizen wird man schon das gewünschte Verhalten bekommen. Seitdem prägt Motivierung – der Versuch, Motivation zu erzeugen – die Arbeitswelt. Ob durch Anschreien, Drohen mit Entlassung, Aussicht auf Beförderungen, Gehaltserhöhungen, Zielvereinbarungen, Leistungsboni, Incentives – die Methoden wechseln, die Absicht bleibt gleich. Und der Erfolg bleibt bescheiden: Dauerhafte Motivation läßt sich nämlich nicht durch Motivierung erzeugen. Die Effekte verpuffen stets nach kurzer Zeit. Und dann muß noch mehr Motivierung her, die auch wieder verpufft. Viel Aufwand, wenig Nutzen.
Dauerhafte Motivation läßt sich nicht durch Motivierung erzeugen.
Kann wenigstens der Feelgood Manager die Mitarbeiter motivieren? Ein wenig vielleicht, wenn er an Äußerlichkeiten im Arbeitsumfeld ansetzt, die die vielfach vorhandenen, demotivierenden Bedingungen abmildern. Doch das genügt nicht. Gefragt ist zuerst das Unternehmen: Faire Arbeitsbedingungen, faire Behandlung, faire Bezahlung. Das sind zwar auch keine Motivatoren, aber stimmt es hier nicht, dann demotiviert das kräftig. Es bleibt: Motivierung ist ein untaugliches Mittel. Die von außen erzeugte, flüchtige Art von Motivation nennt man extrinsische Motivation. Was wir brauchen, ist aber intrinsische Motivation. Sie kommt von innen. Sie ist schon da. Man muß sie nicht erst erzeugen. Man muß ihr „nur“ Raum geben, sich zu entfalten. Das geschieht vor allem, wenn man die Menschen spüren läßt, daß sie Menschen sind. Und hier ist der Feelgood Manager ganz in seinem eigentlichen Element.
Theorie X und Theorie Y
Wenn wir den Menschen spüren lassen wollen, daß er ein Mensch ist, dann müssen wir erst mal grundlegend fragen: Wer ist der Mensch eigentlich? Genauer: Haben wir das richtige Menschenbild? Stimmt unser Bild vom Menschen mit der Realität überein? Worin besteht unser Bild vom Menschen eigentlich?
Der Mensch will arbeiten, er ist intrinsisch motiviert und bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Während das alte Menschenbild aus Taylors Zeiten den Umgang mit dem Menschen in den Organisationen jahrzehntelang bestimmte, entwickelte sich die Psychologie weiter. Der Managementprofessor Douglas McGregor kritisierte schon 1960 in seinem Buch „The Human Side of Enterprise“ („Der Mensch im Unternehmen“) das veraltete Menschenbild und dessen negative Folgen in der Organisation. Er faßte die seit Taylor bestehenden Ansichten über den Menschen als „Theorie X“ zusammen und stellte ihr unter der Bezeichnung „Theorie Y“ die damals bekannten neuen Erkenntnisse der Psychologie entgegen.
Theorie X sagt: Der Mensch sei unmotiviert und arbeitsunwillig, scheue Verantwortung, sei unkreativ. Man müsse ihn extrinsisch motivieren, etwa durch Geld oder Angst vor Jobverlust.
Theorie Y sagt: Der Mensch wolle arbeiten, sei intrinsisch motiviert und bereit, Verantwortung zu übernehmen. Er sei kreativ und habe das Bedürfnis, sein eigenes Potential zu entfalten – sofern die Umstände das ermöglichen.
Das Bedürfnis zu arbeiten
Etwas zu leisten, etwas beizutragen, etwas zu bewegen – das ist ein Bedürfnis!
Zwei völlig gegensätzliche Menschenbilder also. Welches trifft zu? Wir selbst wissen alle, daß wir Y sind. Aber wir neigen dazu, andere Menschen für X zu halten. Eine Wahrnehmungsverzerrung mit weitreichenden Folgen. Alle Menschen sind nämlich Y. Etwas zu leisten, etwas beizutragen, etwas zu bewegen – das ist ein Bedürfnis. Es sitzt als Selbstverwirklichung an der Spitze von Abraham Maslows bekannter Bedürfnispyramide. Selbstverwirklichung meint in der Psychologie keinen Egotrip, sondern das Wirksamwerden des Selbst. Es ist – anders als die Defizitbedürfnisse auf den unteren Ebenen – ein Wachstumsbedürfnis. Unten in der Pyramide herrscht Mangel, oben herrscht Fülle – und zwar in einem Ausmaß, das selbst Maslow erstaunte. Selbstverwirklichung heißt: Mit meiner Fülle kann ich den Mangel anderer füllen – ein höchst soziales Konzept, und die fundamentale Grundlage von Wirtschaft. Hindert man Menschen jedoch daran, ihre Fülle zu entfalten, dann hören sie auf zu wachsen. Dann dominiert der Mangel.

Weil man die Menschen jedoch für X hält, schafft man X-Organisationen, die ihre Mitarbeiter als X behandeln. Was man dann erntet, ist X-Verhalten: Menschen passen sich nämlich an ihre Umgebung an. Sie spielen die Rolle, die ihnen das System vorgibt. Das ist sinnvoll: Täten sie es nicht, riskierten sie, aus dem System zu fliegen. Doch niemand will seinen Job verlieren. Also spielen sie ihre Rolle, auch wenn sie darunter leiden. Denn diese Rolle entfremdet sie von ihrem Y. Sie dürfen nicht sein, was sie sind. Nun entsteht ein Teufelskreis: Man beobachtet X-Verhalten – das Vorurteil bestätigt sich. Deshalb muß die Organisation noch mehr X werden. Und zwingt damit die Mitarbeiter zu noch mehr X-Anpassung. Es ist eine selbsterfüllende Prophezeiung und zugleich eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale – und damit ein außergewönlich stabiles, schwer zu änderndes System.
Die Menschen spielen die Rolle, die ihnen das System vorgibt.
Ein zentrales menschliches Bedürfnis, nämlich das nach Selbstverwirklichung, nach Wirksamkeit, Wachstum und Entfaltung, bleibt in der X-Organisation unerfüllt. Das heißt: Menschliches Potential bleibt ungenutzt. Was der Organisation bleibt, ist der Mangel. Wird deutlich, wie groß das Problem ist? Und wie groß der nötige Wandel ist? Und wie groß die Chancen einer Organisation im Wettbewerb sind, die es schafft, das schier unerschöpfliche menschliche Wachstumspotential ihrer Mitarbeiter zu erschließen? Dann nämlich entsteht ebenfalls eine sich selbst verstärkende Dynamik, und zwar eine Aufwärtsspirale, die als Matthäus-Effekt wohlbekannt ist: „Wer hat, dem wird noch gegeben werden…“
Effizienz ist nicht alles
Inzwischen hat sich die Psychologie wiederum weiterentwickelt. Wir wissen heute viel mehr über den Menschen, als seinerzeit Douglas McGregor. Die Theorie Y wird damit nicht ungültig, sondern schärfer und klarer. Und mit ihr auch die Ideen, wie man eine Y-Organisation gestalten könnte, die dem Menschen das passende Umfeld zur Potentialentfaltung bietet. Stichworte wie Eigenverantwortung, Selbstorganisation und Sinnhaftigkeit spielen darin eine Rolle.
Wenn man immer nur spart, entsteht heutzutage teurer Mangel.
Doch die Unternehmen fokussieren nach wie vor auf Effizienz – wie zu Taylors Zeiten. Mittlerweile haben sich Zeiten, Märkte und Technologien verändert. Taylors Ideen, die so gut in ihre Zeit paßten, kommen heute an ihre Grenzen und scheitern an der zunehmenden Komplexität unserer digitalisierten und vernetzten Welt. Andere Kriterien als Effizienz werden wichtiger. Wenn man immer nur spart, entsteht heutzutage teurer Mangel. Das anschaulichste Beispiel dafür bietet derzeit die hochverschuldete Deutsche Bahn. Der Brandbrief eines Lokführers, der seinen Beruf zwar liebt, aber zunehmend unter seiner Arbeit leidet, gibt tiefen Einblick: Jahrzehntelang habe man Ressourcen wegrationalisiert, die heute angesichts neuer Anforderungen fehlen und neu geschaffen werden müssen. Zu viel Effizienz macht ein System störanfällig.
Wenn man dann auch noch den Menschen allein auf seinen Mangel reduziert, statt seiner Fülle Raum zu geben – wenn man also gewissermaßen die Spitze der Maslow-Pyramide stillegt –, ist das Überleben des Unternehmens gefährdet. So geschwächt lassen sich kommende Krisenzeiten nicht mehr bewältigen. Auch wenn Effizienz ein betriebswirtschaftlich wichtiger Faktor bleibt, wird Effizienzdenken allein den Anforderungen des Wandels zur Wissensgesellschaft nicht mehr gerecht. Zunehmend wichtiger wird insbesondere der Faktor Mensch.
Können, wollen, dürfen
Die große Frage bei der Personalsuche lautet: Was kann der Kandidat? Es geht um Ausbildung und Berufserfahrung. Um Abschlüsse, frühere Tätigkeiten, frühere Erfolge – das, was eben so im Lebenslauf steht, wenn es denn darin steht. Denn echte Könnerschaft läßt sich schwer auf zwei hochstrukturierten Seiten vermitteln. Der effizienzgetriebene Personaler nimmt sich dafür zehn Sekunden Zeit, um zu entscheiden, ob der Kandidat den Job kann oder nicht. Ich habe als Berufungscoach das Privileg, viel mehr Zeit mit einem Menschen zu verbringen, mit ihm gemeinsam in die Tiefe zu graben und seine verborgenen Schätze zu entdecken. Und kann nur staunen über das, was da alles zutage kommt: Lauter ungenutzte Ressourcen, die oft ein ganzes Arbeitsleben lang brachliegen, obwohl sie unendlich nützlich fürs Unternehmen wären.
Allein die Erfahrung, Zeit geschenkt und solche Fragen gestellt zu bekommen, erzeugt schon jede Menge „Feelgood“.
Was würde im Unternehmen alles entstehen können, wenn der Feelgood Manager diese Schätze heben und nutzbar machen könnte? Dafür muß er nicht gleich Berufungscoach sein. Es reicht, sich vielleicht in der Kaffeepause etwas Zeit für den Mitarbeiter zu nehmen und Fragen zu stellen: „Was kannst du gut?“ „Was machst du gern?“ „Was würdest du für die Firma oder die Kollegen tun wollen, wenn es erlaubt wäre?“ Allein die Erfahrung, Zeit geschenkt und solche Fragen gestellt zu bekommen, erzeugt schon jede Menge „Feelgood“. Noch mehr „Feelgood“ entstünde, wenn der Mitarbeiter das, was er sonst in Freizeit und Hobby auslebt, auch auf der Arbeit sinnstiftend einsetzen könnte.
Man sagt, ein Mensch brauche drei Voraussetzungen, um wirksam werden zu können, nämlich Können, Wollen und Dürfen. Vom Können habe ich gerade gesprochen. Das Wollen bezieht sich auf die Motivation. Sie hängt eng mit dem Können zusammen: Das tun zu dürfen, was ich gern tue, weil ich es kann, motiviert mich von innen her. Beides, das Können und das Wollen, steckt im Mitarbeiter.
Dürfen: Der Arbeitgeber muß den Raum schaffen, in dem der Mitarbeiter Platz für sein Können und sein Wollen findet.
Das Dürfen hingegen kommt von außen. Es ist Sache des Arbeitgebers. Er muß den Raum schaffen, in dem der Mitarbeiter Platz für sein Können und sein Wollen findet. Organisatorisch ist das eine Sache der Unternehmensführung. Es bedeutet eine Abkehr vom kleinteiliger Weisung und Kontrolle, hin zu den Prinzipien von Selbstverantwortung und Selbstorganisation. Der Feelgood Manager begleitet diesen Prozeß als Ermutiger direkt am Menschen. Denn zum Dürfen gehören Sich-trauen und Ver-trauen. Er unterstützt die Mitarbeiter, die entstehenden Freiräume zu nutzen und zu füllen, und deren Führungskräfte, die bisher kurze Leine lockerzulassen. Er fragt nach Befindlichkeiten und hält Feedbackprozesse in Gang, damit sich Fehlentwicklungen schnell erkennen und korrigieren lassen. Für eine Feedback- und Kommunikationskultur, die solch einen Wandel tragen kann, hat er hoffentlich schon vorher gesorgt.
Wachstum ermöglichen
Auch wenn es so etwas wie Personalentwicklung gibt – bisher sind Wachstum und Entwicklung in Unternehmen nicht wirklich vorgesehen. Der Bewerber muß exakt auf die ausgeschriebene Stelle passen. Das macht die Personalauswahl so schwierig. Doch so kann das nicht bleiben. Der Übergang von der Industrie- zur Informations- und Wissensgesellschaft hat die Verhältnisse grundlegend verändert. Der Mensch ist heute nicht mehr die Maschine, die eine Maschine bedient. Sondern er ist Wissensträger, und damit selbst Zentrum der Wertschöpfung. Das Wissen – wichtigster Rohstoff unserer Zeit – gehört nicht dem Unternehmen, sondern dem Mitarbeiter. Wie die Organisation mit den Menschen umgeht, das beeinflußt heute mehr denn je ihren Erfolg im Wettbewerb.
Bisher sind Wachstum und Entwicklung in Unternehmen nicht wirklich vorgesehen.
Grundlegender Wandel ist daher unausweichlich. Von oben her angeordneter Wandel – „Change“ – geht jedoch oft am Menschen vorbei und scheitert dann. Besser sind die Chancen, wenn man direkt am Menschen ansetzt: Bottom-up statt Top-down. Gestaltet man die Organisation menschengerecht, statt den Menschen organisationsgerecht zu machen, dann kann sich endlich das unausgeschöpfte Potential des Menschen entfalten.
Literatur
McGregor, Douglas, 1973: Der Mensch im Unternehmen. Düsseldorf/Wien, Econ Verlag, 3. Auflage. Titel der Originalausgabe von 1960: The Human Side of Enterprise.