Google, Facebook, Amazon – groß geworden durch die Digitalisierung. Sie ist der stärkste Treiber der Wirtschaft. Doch etwas stimmt da nicht: Das Bild trübt sich zusehends. Warum? Dieser Grundlagenartikel betrachtet das Phänomen Digitalisierung aus einer neuen Perspektive – und zeigt, was Feelgood Management damit zu tun hat.
Blick zurück: Ein großer Saal, klimatisiert und schallgedämpft. Eine Reihe Elektronikschränke. Bunte Lämpchen flackern. Magnetbandspulen drehen sich hin und her. Lochkarten rattern durch die Leseeinheit. Der Schnelldrucker spuckt stapelweise Papier aus. Menschen mit weißen Kitteln huschen zwischen den Geräten umher. Einer von ihnen bin ich, ein Operator, extra ausgebildet, den Großrechner zu „fahren“.
So begann für mich schon Ende der 1970er die Digitalisierung. Computer waren containergroß und millionenteuer – und etwas sehr Besonderes. Eine Zeit, an die ich mich gern erinnere. Für die meisten anderen Menschen begann die Digitalisierung erst in den 1980ern mit dem Durchbruch des PCs. War die „Rechenstation“, das „Rechenzentrum“ oder „die EDV“ bis dahin noch eine eigene Abteilung im Unternehmen, durchdrang nun die Computertechnik alle Abteilungen, ob im Büro oder in der Produktionshalle. Und hielt bald auch Einzug in die Privathaushalte. Eine rasante Entwicklung begann.
Aus irgend einem Grund bekommen wir das große Produktivitätspotential der Digitalisierung nicht mehr „auf die Straße“.
Dabei war die Technik zu der Zeit gar nicht mehr so neu. Schon 1941 baute Konrad Zuse das erste „Elektronenhirn“. Der Büromaschinenriese IBM griff die Idee auf, sah aber nur einen weltweiten Bedarf von fünf solcher Maschinen. Wider Erwarten bewährte sich die neue, komplizierte Technik, denn sie steigerte trotz des aufwendigen Betriebes die Produktivität der bis dahin noch manuellen Informationsverarbeitung deutlich. Doch der ganz große Wachstumsschub setzte eben erst Jahrzehnte später ein, als die Miniaturisierung die Geräte transportabel und unabhängig von kühlenden Klimaanlagen gemacht hatte.
Der große Wachstumsschub
Die Entwicklung war atemberaubend: Ein Smartphone trägt heute eine Rechenleistung in sich, die damalige „Großrechner“ um ein Vieltausendfaches übertrifft. Die Arbeitswelt hat sich radikal verändert. Neue Jobs und neue Branchen sind entstanden. Und immer noch geht es weiter: „Die Digitalisierung ist die Zukunft!“ Digitale Maschinen werden uns immer mehr Arbeit abnehmen. Steigende Informationsmengen, intelligentere Algorithmen, das wachsende Internet der Dinge – die Möglichkeiten und Geschäftsmodelle sind unzählig, das Wachstum schier unbegrenzt. Die Zukunft ist digital.
Aber halt! Irgend etwas stimmt da nicht. Es gibt eine Voraussetzung, die eine Technologie für Unternehmen überhaupt erst sinnvoll macht: Sie muß die Produktivität steigern. Nur wenn sie das tut, lohnt es sich, da hinein zu investieren. Doch die Produktivität steigt seit fast zwei Jahrzehnten kaum noch. Es ist ein Rätsel: Aus irgend einem Grund, so das Weißbuch Arbeiten 4.0 der Bundesregierung auf Seite 23, bekommen wir das große Produktivitätspotential der Digitalisierung nicht mehr „auf die Straße“. Warum nicht? Haben wir etwas vergessen? Ja: Den Menschen.
„Die übertriebene Automatisierung war ein Fehler. Menschen sind unterbewertet.“
Elon Musk
Von allem, so gut und nützlich es ist, gibt es ein Zuviel des Guten. Diese Erfahrung mußte der technikbegeisterte Tesla-Chef Elon Musk machen: Er kommt mit seinem Elektroauto nicht zu Potte. Zu viel Technik im Auto, zu viel Technik in der Produktion. „Wir haben den Menschen unterbewertet“, gab er schließlich zu. Er hat daraufhin viele Leute eingestellt. Auch hier ein Zuviel, denn später mußte er sie wieder entlassen. Ein Pendel, das zu weit von seiner Mittellage in ein Extrem gezwungen wird, schlägt weit zur anderen Seite aus, wenn man es losläßt. Ich fürchte, solche Übertreibungsfolgen werden wir in den nächsten Jahren öfter erleben. Wir übertreiben gerade vieles.
Der Mensch – das analoge Wesen
Je mehr wir digitalisieren, desto wichtiger wird der Mensch.
Dennoch: „Die Digitalisierung wirft den Menschen auf sein Menschsein zurück“, sagt das Zukunftinstitut. Je mehr wir digitalisieren, desto wichtiger wird der Mensch. Das klingt paradox, und es widerspricht der These, die Digitalisierung werde dem Menschen eines Tages alle Arbeit abnehmen. Doch der Ex-IBM-Technikchef Gunter Dueck begründet das sehr plausibel: Der Computer nehme dem Menschen künftig alle in Algorithmen faßbare Arbeiten ab. Algorithmen sind eine programmierte Folge aus Ja-nein- oder Wenn-dann-Entscheidungen. Wo aber noch keine Entscheidungspfade gebahnt seien, wo es um schwierige Abwägungen oder gegensätzliche Interessen gehe, wo Unsicherheit oder Komplexität herrschten, wo ungewöhnliches Denken, riskante Entscheidungen oder kreative Lösungen gefragt seien, da versage der Computer.
Einfache Probleme übernimmt der Computer, dem Menschen bleiben die schwierigen Probleme – das heißt: Der einfache Teil der Arbeit entfällt. Keine Routine mehr, nur noch Ausnahmefälle – das, so Dueck, stelle immense Anforderungen an den Menschen. Bisher sei er dafür aber noch gar nicht gerüstet. Wir müssen viel mehr in den Menschen investieren, nicht nur in Schule und Studium, auch in den Unternehmen. Gerade die Arbeitswelt muß ein Ort werden, an dem Menschen lernen und wachsen und sich entfalten können – statt nur zu funktionieren. Das wird auch die Unternehmen florieren lassen.
„Die Digitalisierung wirft den Menschen auf sein Menschsein zurück.“
Zukunftsinstitut
Ausgerechnet die Digitalisierung führt uns also vor Augen, daß unsere Welt analog ist – wieder ein Paradoxon. Digitale Maschinen kennen in ihrem Innersten nur zwei Zahlen: Null und Eins. Ihre Welt ist zweiwertig. Auch die Industriegesellschaft hat sich schon lange vor der Erfindung des Computers eine vereinfachte, zweiwertige Welt geschaffen: Ja oder Nein. Richtig oder Falsch. Gut oder Böse. Paßt oder paßt nicht. Schwarz oder Weiß. In solch vereinfachten Strukturen sind geschäftliche Entscheidungen und Prozesse einfacher. Der Computer hat das alles in Einsen und Nullen übersetzt und damit maschinell verarbeitbar gemacht.
Wenn der Mensch den Überblick verliert
Doch jetzt entdecken wir, daß es zwischen Ja und Nein ein Vielleicht, ein Sowohl-als-auch oder ein Weiß-nicht gibt. Daß zwischen Schwarz und Weiß nicht nur eine Skala von Graustufen, sondern ein ganzer Kosmos von Farben steckt. Ausgerechnet der Versuch, im Computer eine digitale Kopie unserer Welt zu schaffen, stößt uns darauf, wie analog unsere Welt ist. Sicher kann man analoge Dinge auch mit Hilfe von Einsen und Nullen abbilden, wenn man ausreichend viele davon nimmt. Aber das bedeutet: Immer größere Datenmengen, immer kompliziertere Algorithmen. Am Ende kann der Mensch nicht mehr nachvollziehen, wie der Algorithmus zu seiner Entscheidung gekommen ist.
Komplexität heißt: Der Mensch verliert den Überblick.
Und hier lauert schon das nächste Paradoxon: Die zunehmende Datenfülle muß zwischen Computern fließen. Dazu vernetzen wir die Computer immer enger miteinander. Doch das macht es nicht einfacher, sondern schwieriger: Unsere global vernetzte Welt ist komplex geworden. Alles hängt mit allem zusammen. Alles beeinflußt sich gegenseitig. Nichts kommt mehr zur Ruhe. Die Datenflut verstopft nicht nur die Datenautobahnen, sie überfordert auch den Menschen. Entscheidungen werden immer schwieriger, die Auswirkungen von Fehlentscheidungen immer unüberschaubar.
Komplexität heißt: Der Mensch verliert den Überblick. Er kann die vielen verborgenenen Wirkzusammenhänge im System nicht sehen – und es deshalb nicht mehr planvoll gestalten. Eingriffe ins System bringen nichts oder haben unerwartete Nebenwirkungen – oder bewirken sogar das Gegenteil des Beabsichtigten. Unter diesen Umständen wird das, was man mit dem Computer vereinfachen oder automatisieren wollte, praktisch unmöglich: Planen, Entscheiden, Steuern. Das Gewohnte funktioniert nicht mehr. Nun hilft kein Computer mehr. Der Mensch muß jetzt Neuland beschreiten und Fähigkeiten entwickeln, mit dem neuen Phänomen Komplexität umzugehen.
Warum der Mensch unverzichtbar wird
Lange habe ich mein Geld damit verdient, Computer zu programmieren. Mich mit der Technik herumzuärgern, gehörte zum Job und wurde bezahlt. Erst als ich mich selbständig machte, nahm ich wahr, wie eigensinnig und störanfällig das Werkzeug Computer ist. Und wieviel Zeit, Nerven und Geld es kostet, wenn etwas nicht funktioniert. Und wie groß die Ablenkung ist, wenn mich der Computer mitten in einer Coachingsitzung oder Präsentation fragt, ob ich jetzt das neue Update installieren wolle. So hilfreich der Computer trotzdem noch ist – er ist auch ein Störenfried und ein Unruheherd. Er hält einen ständig beschäftigt und fordert unnötig viel Aufmerksamkeit. Das – und nicht nur das – frißt Stück für Stück sein produktivitätssteigerndes Potential auf. Und das wiederum schwächt seine Rolle als Wachstumslokomotive der Wirtschaft. Eigentlich.
Wie groß ist die Ablenkung, wenn mich der Computer mitten in der Coachingsitzung fragt, ob ich jetzt das neue Update installieren will.
Uneigentlich geht kaum etwas ohne den Computer. Wir haben uns von ihm abhängig gemacht. Wir können ihn nicht abschaffen. Es gibt keine Alternative. Er ist nun mal die Technologie unserer Zeit. „4.0!“ lautet der Schlachtruf. Was also können wir noch alles digitalisieren? Doch seit ich in Klaus Hennings Buch „Die Kunst der kleinen Lösung“ las, wie eine einfache Post-it-Notiz eine 300.000-Euro-IT-Lösung überflüssig gemacht hat, bin ich mir nicht mehr sicher, ob das immer die richtige Frage ist. Die Post-it-Notiz hat nämlich Menschen dazu veranlaßt, Dinge und Abläufe kreativ zu verändern. Menschliche Selbstorganisation hat das Problem viel schneller und kostengünstiger gelöst, als es ein Computer je hätte tun können.
„Die größten Potentiale unserer Organisationen liegen in der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten.“
Peter M. Senge
Immer noch setzen wir unsere Hoffnungen unbeirrt auf den Computer. Doch unsere größten, noch weitgehend ungehobenen Produktivitätsreserven liegen im Menschen. Warum nutzen wir diese Erkenntnis nicht? Sie paßt nicht in unsere Organisationen. Das stellt Entscheider vor ein Dilemma: Es ist in einer Welt der Kostenführerschaft und der Gewinnmaximierung nicht unmittelbar einsichtig, warum Investitionen in den Menschen sinnvoll und zukunftsträchtig sein sollten. Ebensowenig einsichtig ist, warum Investitionen in die Digitalisierung nicht der beste und zukunftsträchtigste Weg sein sollten. Wie also können Entscheider ihren Stakeholdern gegenüber eine Entscheidung gegen das unmittelbar Einsichtige glaubwürdig begründen?
Wie es weitergeht: Umdenken
Nein, ich bin nicht technologiefeindlich. Ich habe gern mit der digitalen Technik gearbeitet und bin heute dankbar für viele ihrer Segnungen – von der Textverarbeitung über das Internet bis zur Navigation. Ich finde aber, wir brauchen mehr Besonnenheit und ein Umdenken im Umgang mit dieser Technik. Und wir sollten den größeren Kontext betrachten.
Zum Kontext gehört, daß Trends nicht endlos weitergehen wie bisher. Sie sind in Bewegung, wechseln unvermittelt ihre Richtung, lösen Gegentrends aus, erreichen irgendwann einen Punkt, an dem sie nicht mehr weiterwachsen. Dieser Punkt könnte gar nicht so weit in der Zukunft liegen. Vor einem Jahr las ich erstmals die Begriffe Entdigitalisierung und Reanalogisierung. Das Zukunftsinstitut denkt inzwischen über das postdigitale Zeitalter nach. Wie lohnend ist es aus diesem Blickwinkel noch, in aufwendige IT-Lösungen zu investieren?
Google: Sie kümmern sich nicht um den Menschen, weil sie so gut verdienen. Sondern sie verdienen so gut, weil sie sich um den Menschen kümmern.
Bei aller geäußerten Skepsis – die Digitalisierung hat auch gute Seiten. Darunter auch eine pardoxe: Sie rückt erstmals seit der Industriellen Revolution den Menschen ins Zentrum der Wertschöpfung. Sie befördert ihn vom austauschbaren Erfüllungsgehilfen zum unverzichtbaren Erfolgsschlüssel. Nicht ohne Grund ist das Feelgood Management, also die Idee, sich um die Menschen im Unternehmen zu kümmern, zuerst in IT-Startups entstanden. Google ist so mächtig und erfolgreich geworden, weil sie von Anfang an auf den Menschen gesetzt haben. Wohlgemerkt, um nicht Ursache und Wirkung zu verwechseln: Sie kümmern sich nicht um den Menschen, weil sie so gut verdienen. Sondern sie verdienen so gut, weil sie sich um den Menschen kümmern. Können wir daraus etwas lernen?