Als man unsere lokale Programmierabteilung auflöste, weil die Konzernzentrale fortan unsere Aufgaben übernehmen sollte, und wir deshalb nicht mehr gebraucht würden, gingen mehrere Kollegen sofort. Ich gehörte zu denen, die blieben und eine andere Arbeit in der Nachbarabteilung übernahmen. Dennoch ließ mich die alte Arbeit nicht los: Immer wieder kamen Anfragen aus der Zentrale, weil ihnen Informationen fehlten. Ich war plötzlich ein gefragter Mann. Als ich später kündigte, um mich selbständig zu machen, schaltete mein neuer Chef sofort: „Schreib mal alles auf, was du über deine Projekte weißt!“
Alles? Da saß ich nun und überlegte, was ich aufschreiben sollte. Wer genau war meine Zielgruppe? Was konnte ich bei den Lesern voraussetzen? Wie detailliert sollte ich es aufschreiben? Wieviel Kontext, wie viele betriebliche Hintergründe sollte ich einschließen? Und wie habe ich es eigentlich geschafft, die Fehler in abgestürzten Programmen zu finden? Zum ersten Mal im Leben fragte ich mich: Was weiß ich denn so alles?
Schwer zu greifen: Wissen
Mir wurde bewußt: Es war unmöglich, alles aufzuschreiben, was ich wußte. Denn nicht alles, was ich wußte, war mir im Moment des Aufschreibens bewußt. Ich konnte zwar etwas über Funktionen und Abläufe meiner Programme schreiben. Aber ich konnte unmöglich den hochgradig intuitiven Prozeß der Fehlersuche nach einem Programmabsturz in Worten beschreiben. Ein Fehler liegt ja meist nicht da, wo er von außen erkennbare Wirkung zeigt, sondern er schleppt sich oft von seiner eigentlichen Ursache her lange durchs Programm, löst dabei Folgefehler aus, von denen einer schließlich ganz woanders zum Absturz führt. Das zum Finden der Ursache nötige Suchen und Nachspüren ist ja an sich kein Wissen, sondern es ist eher ein Können, das sich des oft unbewußten Wissens oder Ahnens bedient, des sogenannten impliziten Wissens. So etwas ist nicht am grünen Tisch aufschreibbar, denn es ereignet sich erst in der Situation. Und nur in der Situation.
Heute, in der anbrechenden Wissensgesellschaft, wird Wissen zum Schlüsselrohstoff.
Was ich aufgeschrieben habe, hatte vermutlich die Qualität einer Bedienungsanleitung. Bedienungsanleitungen enthalten explizites Wissen, also Wissen, von dem man weiß, daß man es weiß, und das sich deshalb verschriftlichen läßt. Das Offensichtliche steht drin: „Zum Einschalten drücken Sie den Netzschalter.“ Dafür braucht man keine Bedienungsanleitung. Spannend wird es erst, wenn sich beim Druck auf den Netzschalter nichts rührt. Doch an diesem Punkt versagt die Bedienungsanleitung gewöhnlich. Leider habe ich keine Rückmeldung dazu, wie nützlich meine „Wissenssammlung“ war, da ich nach meinem Weggang ganz damit beschäftigt war, meine Selbständigkeit aufzubauen. Da blieb keine Zeit für den Kontakt mit den früheren Kollegen.
Wissen zu Daten?
Das grundlegende Problem, mit dem ich konfrontiert war, und mit dem es auch das professionelle Wissensmanagement zu tun hat, ist die Übersetzung von Wissen in Information. Oder präziser: Von Wissen in Daten, denn beides ist Information, doch unterscheidet es sich wesentlich voneinander: Wissen ist unstrukturiert, Daten sind strukturiert. Wissen steckt im Gehirn, Daten stehen auf einem Datenträger. Wissen ist parallel (alles gleichzeitig vorhanden), Daten sind seriell (eins nach dem anderen übermittelbar). Auf mein individuelles Wissen habe ich in der Regel einen viel schnelleren Zugriff, als es braucht, beispielsweise ein Handbuch nach einer bestimmten Information zu durchsuchen.
„Wissen kann man nicht managen – es sitzt zwischen zwei Ohren.“
– Peter F. Drucker
Wenn ich „in der Regel“ schreibe, dann meine ich das im Bewußtsein verfügbare, in der Regel explizite Wissen. Es ist im Bewußtsein, weil ich es täglich brauche. Was ich seltener brauche, sinkt mit der Zeit ins Unterbewußtsein. Das heißt nicht, daß ich es „vergesse“. Ich habe nur keinen direkten Zugriff darauf, kann es aber bei Bedarf ohne großen Aufwand wieder hochholen, mich also daran „erinnern“. Wie hoch der Aufwand ist, das hängt davon ab, wie tief das Wissen gesunken ist. Was ich vor wenigen Monaten gelernt oder öfter genutzt habe, ist schneller reaktiviert, als was ich in Schule oder Studium gelernt und seitdem nicht mehr gebraucht habe.
Das meiste Wissen ist unbewußt
Der allergrößte Teil unseres Wissens, das implizite Wissen, liegt jedoch tief im Unterbewußtsein und ist dem direkten Zugriff des Bewußtseins entzogen. Das kann Menschen etwa bei Bewerbungen sehr verunsichern: Man hat es zwar studiert, aber man hat nicht das Gefühl, es zu können. Man traut sich nicht an die Aufgabe oder an den Job. Dabei reicht es oft schon, daß man es bei der Einarbeitung einfach tut, daß es jemand erklärt, daß man – wenn das Studium lange zurückliegt – noch mal einen Auffrischungskurs macht.
Funktionierende Wissensflüsse werden überlebenswichtig für Unternehmen.
Wie kann man etwas so schwer Greifbares wie Wissen an andere weitergeben? Es braucht Zeit und Zusammenarbeit. Früher vermittelte der Meister sein Wissen und seine Erfahrung dem Gesellen in jahrelanger Zusammenarbeit. Leider ist in einer Arbeitswelt, die von Hektik und Konkurrenzdenken geprägt ist, solch eine Wissensweitergabe kaum möglich. Wieviel Wissensmanagement oder Firmenwikis daran ändern können, sei dahingestellt. So schwierig es ist, Wissen in Daten umzuwandeln, so schwierig ist es auch, Daten in Wissen umzuwandeln. Es genügt nicht, dem Gehirn Daten einzutrichtern, in der Hoffnung, daß es daraus Wissen macht.
Was kann Feelgood Management tun?
Vom Feelgood Manager erwartet man gewöhnlich, dafür zu sorgen, daß die Leute im Unternehmen bleiben. Das kann weder Ziel, noch Maßstab von Feelgood Management sein. Wenn jemand gute Gründe hat, zu gehen, sollte man ihn ziehen lassen – und zwar in einer Atmosphäre, die ihn einlädt, den Kontakt mit den bisherigen Kollegen zu halten, und die ihm eine Tür offen hält, wenn er da draußen nicht glücklich wird und doch wieder ins Unternehmen zurückkehren möchte. Dieses sogenannte „Offboarding“ ist durchaus eine Aufgabe des Feelgood Managers.
Doch vorher hat er hoffentlich dafür gesorgt, daß sich der Mitarbeiter im Unternehmen wohl gefühlt hat (Ärger mit dem Chef wäre kein guter Grund zu gehen), und daß er in die Wissensflüsse des Unternehmens eingebunden war. Echte Wissensweitergabe geschieht einerseits durch Zusammenarbeit auf Augenhöhe, andererseits durch ungezwungene Kommunikation. Dem stehen häufig Organisationsstrukturen entgegen. Eines der zentralen Anliegen des Feelgood Management besteht darin, die Menschen auch über Abteilungs- und Hierarchiegrenzen hinweg zusammenzubringen.
Es war damals nicht angenehm für uns Softwareentwickler, ins Gesicht gesagt zu bekommen: Wir brauchen euch nicht mehr. Dennoch bin ich dankbar für die Erfahrung, miterleben zu können, wie schwierig es für eine Firma wird, wenn sie mit den Leuten auch Wissen verliert. Das hat mich für das Problem sensibilisiert. Heute, mehr als ein Jahrzehnt später, in der anbrechenden Wissensgesellschaft, wird Wissen zum Schlüsselrohstoff. Funktionierende Wissensflüsse werden geradezu überlebenswichtig für Unternehmen. Da der einzige Wissensträger, den es gibt, der Mensch ist, lohnt es sich mehr denn je, wenn Unternehmen in eine Person investieren, die verantwortlich ist für die menschliche Seite des Unternehmens.